Название: Maigret lässt sich Zeit
Автор: Georges Simenon
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Red Eye
isbn: 9783311701880
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»In dem kleinen Zimmer kann man nichts hören.«
»Verspätet sie sich manchmal?«
»Oft. Sie hat einen kranken Sohn, um den sie sich kümmern muss, bevor sie zu uns kommt.«
»Sie haben erst um Viertel nach zehn bei der Polizei angerufen. Warum? Und warum haben Sie nicht als Erstes daran gedacht, einen Arzt zu rufen?«
»Sie haben Manuel doch selbst gesehen. Er war ganz offensichtlich tot.«
»Was haben Sie in den zwanzig Minuten zwischen der Entdeckung der Leiche und Ihrem Anruf bei der Polizei getan? Ich gebe Ihnen den guten Rat, Aline: Antworten Sie nicht zu schnell. Ich kenne Sie. Sie haben mich oft belogen. Ich habe es Ihnen nie übel genommen, aber ich weiß nicht, ob der Untersuchungsrichter das genauso sieht. Und er ist es, der entscheidet, ob Sie verhaftet werden oder nicht.«
Sie fand zum spöttischen Ton des ehemaligen Straßenmädchens zurück:
»Das wäre ja wohl die Höhe! Mich verhaften? Und da soll man noch an Gerechtigkeit glauben! Glauben Sie noch daran, nach allem, was Sie erlebt haben? Sagen Sie schon!«
Maigret zog es vor, die Frage nicht zu beantworten.
»Hören Sie, Aline, diese zwanzig Minuten können eine bedeutende Rolle spielen. Manuel war ein vorsichtiger Mensch. Ich glaube nicht, dass er hier in der Wohnung kompromittierende Papiere oder Gegenstände aufbewahrt hat, und erst recht keinen wertvollen Schmuck oder größere Geldsummen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Haben Sie wirklich keine Ahnung? Wenn man eine Leiche entdeckt, wäre doch wohl der normale Reflex, einen Arzt oder die Polizei zu rufen.«
»Dann scheine ich nicht die gleichen Reflexe zu haben wie normale Menschen.«
»Sie sind vermutlich nicht zwanzig Minuten lang regungslos vor der Leiche stehen geblieben.«
»Eine ganze Weile jedenfalls.«
»Ohne etwas zu tun?«
»Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, ich habe als Erstes gebetet. Ich weiß, das ist verrückt, weil ich nicht an diesen verdammten lieben Gott glaube. Aber es gibt Momente, in denen es einen trotzdem überkommt. Ob das nun einen Sinn hat oder nicht, ich habe für seinen Seelenfrieden gebetet.«
»Und dann?«
»Bin ich hin und her gegangen.«
»Wo?«
»Von dem kleinen Zimmer in mein Schlafzimmer und zurück. Ich habe vor mich hin geredet. Ich habe mich gefühlt wie ein Tier im Käfig, wie eine Löwin, der man ihr Männchen und ihre Jungen genommen hat. Denn er war beides für mich: mein Mann und mein Kind.«
Sie sprach leidenschaftlich und ging auch jetzt im Schlafzimmer auf und ab, als wollte sie ihre Handlungen vom Morgen rekonstruieren.
»Das hat zwanzig Minuten gedauert?«
»Vielleicht.«
»Sie sind nicht auf die Idee gekommen, der Haushälterin zu sagen, was passiert war?«
»Ich habe überhaupt nicht an sie gedacht. In keinem Augenblick ist mir bewusst geworden, dass sie in der Küche war.«
»Sie haben die Wohnung nicht verlassen?«
»Wohin hätte ich gehen sollen? Fragen Sie Ihre Männer.«
»Gut, nehmen wir an, Sie sagen die Wahrheit.«
»Das tue ich schon die ganze Zeit.«
Gelegentlich konnte sie sich wie ein braves Mädchen benehmen. Vielleicht hatte sie einen guten Kern, und vielleicht war ihre Zuneigung zu Manuel echt. Aber wie bei so vielen anderen hatten ihre Erfahrungen in ihr das Bedürfnis hinterlassen, sich bissig und aggressiv zu zeigen.
Wie konnte sie an das Gute, an die Gerechtigkeit glauben, wie Vertrauen in die Menschen haben, nach dem Leben, das sie geführt hatte, bevor sie Palmari begegnet war?
»Dann machen wir jetzt ein kleines Experiment«, brummte Maigret und öffnete die Tür.
»Moers, kommen Sie mal mit dem Paraffin?«
Man hätte meinen können, Möbelpacker hätten in der Zwischenzeit die Wohnung in Beschlag genommen, und Janvier, der die beiden Inspektoren Baron und Vachet hochgeholt hatte, wusste nicht, wohin mit ihnen.
»Einen Moment noch, Janvier. Moers, kommen Sie rein.«
Moers wusste Bescheid und bereitete seine Instrumente vor.
»Geben Sie mir Ihre Hand, Madame.«
»Wozu?«
»Um festzustellen, dass Sie heute Morgen keine Waffe benutzt haben«, erklärte der Kommissar.
Ohne mit der Wimper zu zucken, streckte sie ihre rechte Hand aus. Zur Sicherheit wurde das Ganze mit der linken Hand wiederholt.
»Wann haben Sie das Ergebnis, Moers?«
»In zwölf Minuten. Ich habe unten im Wagen alles, was ich brauche.«
»Verdächtigen Sie mich wirklich nicht und machen das alles nur aus Routine?«
»Ich bin fast sicher, dass Sie Manuel nicht getötet haben.«
»Wessen verdächtigen Sie mich dann?«
»Das wissen Sie besser als ich. Ich hab’s nicht eilig. Mit der Zeit wird sich alles aufklären.«
Er rief Janvier und die beiden Inspektoren, die das gelb-weiße Schlafzimmer sichtlich verlegen machte.
»Jetzt seid ihr dran, Kinder.«
Als bereitete sie sich auf den Kampf vor, steckte sich Aline eine neue Zigarette an und blies mit verächtlicher Miene den Rauch aus.
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