Название: Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)
Автор: Siri Pettersen
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9783038801146
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Niemand baute hier etwas an, noch nicht einmal das Essen, das sie brauchten.
Hirka stocherte in einem der Pflanztöpfe auf dem Fensterbrett. Pater Brody war mit ihr zum Gewächshaus bei der Schule gefahren und hatte ihr drei Pflänzchen gekauft. Sie wuchsen langsam, jedes in seinem Pappbecher. Welche Art Pflanzen es waren oder wogegen sie helfen sollten, wusste sie nicht. Alles musste sie wieder von Anfang an lernen. Wirklich alles.
Sie suchte mit den Augen nach etwas Sicherem, damit sie dort den Blick ruhen lassen konnte.
Weit unter sich sah sie einen Mann auf einer Bank. Er hatte genau an der Stelle den Schnee weggefegt, an der er saß, aber nicht auf dem anderen Teil der Bank. Er schaute zu ihr herauf, guckte aber gleich wieder weg. Tat, als habe er sie nicht gesehen. Er trug einen grauen Pullover mit Kapuze und eine Lederjacke. Sie hatte ihn früher schon einmal gesehen. Er war am Vortag vorbeigegangen. Da war sie sich sicher. Und sie hatte ihn in der Nähe des Supermarktes gesehen. Was wollte er? Warum war er hier? War er von der Polizei? Einer, der sie holen wollte, weil sie keine Nummer hatte?
Die Angst kam angeschlichen, eine Kälte im Bauch.
Er stand abrupt auf, ging über den Friedhof und verließ ihn durch die schmiedeeiserne Pforte. Sie starrte ihm nach, aber er war fort. Sie sah nur noch die Autos, die vorübersausten.
In dieser Welt gab es keine Stille. Wohin auch immer man ging, war man von Geräuschen umgeben. Ein ständiges Rauschen von Maschinen. So viel war fremd. So vieles musste man wissen. So vieles konnte sie falsch machen.
Hirka drückte die Hände so fest auf die Ohren, bis sie nur noch das Rauschen ihres eigenen Blutes hörte, das ihren Körper durchströmte. Schneller und immer schneller.
Sie konnte nicht tief einatmen. Ihr war schwindelig. Das Gefühl von Unwirklichkeit überflutete sie. Ihre Hände fingen an zu zittern. Sie riss sich die Kleider vom Leib, fummelte am Reißverschluss der Hose, konnte sie nicht schnell genug loswerden. Sie schüttete ihren Beutel aus. Alles verteilte sich auf dem Steinfußboden: alte Sachen, vertraute Sachen, ihre Sachen, Kräuter. Davon war nur noch viel zu wenig übrig. Das grüne Strickhemd, an den Bündchen leicht aufgeribbelt. Sie zog es an. Auch die Hose. Das Taschenmesser. Niemand hatte hier ein Messer bei sich. Das war nicht erlaubt.
Sie ließ sich auf die Matratze fallen und blieb sitzen, die Arme um sich geschlungen. Sie legte die Hand auf ihre Brust und tastete nach den Schmuckstücken: eine Muschel und ein Wolfszahn mit kleinen Kerben. Jede einzelne Kerbe stand für etwas Wirkliches. Für etwas, das geschehen war. Siege im Zweikampf zwischen ihr und Rime.
Rime …
Sie hatte sich an die plötzlichen Anfälle gewöhnt, hatte sich daran gewöhnt, davon überwältigt zu werden. Aber an die Sehnsucht würde sie sich nie gewöhnen, an das Loch in der Brust, das an ihr nagte, jeden Tag. Seit hundertvierundfünfzig Tagen.
Ymsland war in Sicherheit, das war der einzige Trost. In Sicherheit vor den Blinden, jetzt, da sie weg war. Jetzt, da die Fäulnis nicht mehr dort war.
Aber sie hatte die Erinnerungen, die Geschenke.
Ihr Herz schlug allmählich langsamer. Das Atmen fiel ihr leichter. Sie war Hirka. Sie war echt. Ihre Sachen waren echt. Sie gehörten nur nicht hierher.
Auch hierher nicht.
Sie schob die Hand in die Tasche, holte drei Blutsteine heraus. Ein Geschenk von Jarladin. Der Ratsherr hatte sie vor ihrer Abreise im Umhang versteckt. Sie hätten für ein ganzes Leben in Mannfalla gereicht. Was sie hier wert waren, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Sie hatte keinen Ort gesehen, an dem man Steine kaufte und verkaufte. Es wollte sie auch kein Laden haben.
Dann war da das Buch von Hlosnian. Ein Geschenk, das den Steinflüsterer mehr gekostet haben musste, als sie sich vorstellen konnte. Rime hatte es ihr in der Nacht gegeben, als sie fortgegangen war.
Hirka hörte das Schlagen von Flügeln. Kuro landete auf dem Fenstersims und zwängte sich durch die Lüftungsklappe. Er segelte hinunter und legte sich in der Schublade zurecht. In letzter Zeit stimmte etwas nicht mit ihm. Er hüpfte so selten. Stattdessen ging er meistens. Sie hatte sogar gesehen, dass er umkippte. Er machte einfach einen niedergeschlagenen Eindruck. Vielleicht hatte der Rabe es auch schwer, so wie sie. Hatte es schwer, in dieser toten, gabenlosen Welt Nahrung zu finden.
Wenigstens hatten sie einander. Sie hätte die letzten Monate ohne ihn kaum überstanden.
Hirka legte Hlosnians Buch auf den Schoß. Es war schwer, in braunes Leder gebunden und mit Riemen versehen, mit denen sie es verschließen konnte. Sie hatte eine runde Scheibe auf dem Buchdeckel befestigt. Ein alter Kompass, hatte Pater Brody erklärt. Sie hatte ihn auf dem Friedhof gefunden. Die Nadel zeigte immer nach Norden und es half ihr, sie anzustarren, wenn die Welt sie schwindelig machte.
Hirka schlug das Buch auf. Sie war in Lesen und Schreiben nie gut gewesen, nur ein kleines Lot besser als Vater. Dennoch hatte sie viele Seiten mit unbeholfenen Worten und Zeichnungen gefüllt: eine Karte über die nähere Umgebung, Zeichnungen von Pflanzen, Bilder, die sie auf der Straße gefunden hatte, ein totes Blatt, Bonbonpapier, kleine Stofffetzen.
Am Anfang hatte sie alles gesammelt. Jede Kleinigkeit war neu und herzzerreißend schön. Sie hatte auch Dinge aufgeschrieben, die sie Rime erzählen wollte, aber das hatte mit jedem Tag mehr wehgetan und sie hatte es darum aufgegeben.
Doch neue Wörter schrieb sie weiterhin auf. Nach und nach hatte sie sich eine Aufteilung ausgedacht. Auf eigenen Seiten hielt sie Wörter für Dinge fest, die sie von früher kannte: Stuhl, Fenster, Brot, Regen. Auf anderen trug sie Wörter für Dinge ein, von denen sie nie geglaubt hätte, dass es sie gibt: Telefon, Schokolade, Asphalt, Sonnenbrille, Waschmaschine, Benzin.
Sie holte den Bleistift heraus und schrieb das neue Wort auf, das sie von Jay gelernt hatte. Wikinger: lebten vor tausend Jahren in Schiffen.
Sie schaute Kuro an. Er war in der Schublade eingeschlafen. Die Federn am Kopf vibrierten, wenn er atmete. Sie hob den Bleistift und begann wieder zu schreiben.
Überleben: existieren, klarkommen, nicht sterben.
Der Fremde
Das meiste bleibt einem erspart, solange man sich nützlich macht.
Eigentlich sollte niemand in einer Kirche wohnen, so viel hatte Hirka begriffen. Jedenfalls niemand wie sie. Sie sagten, dies sei Gottes Haus, aber er war seit Hirkas Ankunft nicht hier gewesen, darum bezweifelte sie, dass er es oft nutzte. Pater Brody hätte sie schon längst hinauswerfen oder die Polizei holen können. Was hatte Jays Mutter noch gesagt? Er hätte die Kinderfürsorge holen können.
Doch das tat er nicht. Nicht, solange Hirka Kleider wusch, auf Kinder aufpasste, Schnee schippte und Einkäufe erledigte. Er hatte sie nie darum gebeten. Sie hatte einfach damit angefangen, so wie sie es in der Teestube bei Lindri gemacht hatte. Nach ein paar Tagen stellte niemand mehr Fragen. Weder, woher sie kam, noch, was sie hier wollte.
Und dennoch, das Gefühl, nach dem sie sich sehnte, blieb aus. Das Gefühl, zu Hause zu sein, eine Familie zu haben. So fühlte es sich nicht СКАЧАТЬ