Название: Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)
Автор: Siri Pettersen
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9783038801146
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»Sie klettern mehrmals am Tag bergauf und bergab«, sagte Schwarzfeuer. »Um sich am Leben zu halten. Um uns am Leben zu halten. Erinnerst du dich?«
Erinnerst du dich? Ich habe noch immer die Spuren der Riemen auf den Schultern.
»Ja, ich erinnere mich.«
»Wenn der Tag um ist, legen sie sich schlafen. Und am nächsten Morgen stehen sie auf und machen alles wieder von vorn. Aber dann kommt die Wintersonnenwende. Dann sitzen sie in den Hütten um die Feuerstellen und trinken vergorenen Tee und Wein. Sie krempeln die Ärmel hoch und zeigen ihre Narben vor. Lachen über ihre Fehler, beschenken sich mit Dingen, die sie hergestellt, gekauft oder gestohlen haben. Und am Morgen danach können sie lange schlafen.«
»Lange?« Rime hob eine Augenbraue und der Mester besaß so viel Anstand, sich etwas peinlich berührt zu räuspern.
»Ja, länger als an den anderen Tagen zumindest. Aber meine Frage an dich ist: Wollen wir ihnen diesen Abend wegnehmen?«
»Natürlich nicht, Mester.«
»Warum nicht?«
»Weil die Tage ohnehin schon anstrengend genug sind.« Rime wusste, dass er in eine Falle tappte, aber Schwarzfeuers Fallen konnte man nur schwer aus dem Weg gehen. Man landete in ihnen, ob man wollte oder nicht.
»Das stimmt. Die Tage sind ohnehin anstrengend genug. Ein Fest kann für ein ganzes Jahr Schufterei entschädigen.«
»Lass uns doch ein Fest ohne Frauen machen.«
Schwarzfeuer schaute ihn an. »Du bist Rabenträger. Sie können dich nicht dazu zwingen. Aber wenn du eine Familie gründen würdest, könnte das Volk feiern. Sie würden alle vergessen, die bei Ravnhov gestorben sind. Könnten die Asche vergessen, die das Getreide unter sich begräbt. Sie würden sogar den Raben vergessen. Das Einzige, was sie sehen würden, wäre Jugend, Hoffnung und Liebe. Eine neue Generation An-Elderin. Etwas von Bestand im Chaos. Und wie du es auch drehst und wendest, du bist derjenige, der das Chaos verursacht, Rime. Und das Schlimmste, was dir passieren kann, sind warme Arme, zu denen du abends ins Bett kriechen kannst. Es gibt im Leben Unangenehmeres, Junge.«
Rime starrte ihn an.
Schwarzfeuer war offensichtlich amüsiert. »Ja, was denn? Hast du etwa gedacht, man ist ohne Gegenleistung Rabenträger? Dass du nichts opfern müsstest?«
Rime antwortete nicht. Was sollte er sagen? Er hatte bereits das Einzige geopfert, das für ihn je von Bedeutung gewesen war. Sich an eine andere zu binden, kam einem Todesurteil gleich. Das war, als würde er sich damit abfinden, dass Hirka verloren war. Dass sie nie wieder zurückkam.
Ein schwarz gekleideter Schatten kam zwischen den Bäumen angelaufen. »Mester Schwarzfeuer! Ein Rabe!« Der Mann kam bei ihnen an und tat sein Bestes, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er außer Atem war. Er reichte Schwarzfeuer eine weiße Briefhülse mit dem Siegel des Rates. Das Rabenzeichen gab es noch, obwohl es den Seher nie gegeben hatte.
Schwarzfeuer reichte Rime die Hülse. »Das ist dein Siegel.«
Rime nahm sie, zog das zusammengerollte Papier heraus und las, während sich ihm die Haare auf den Armen sträubten. »Das ist von der letzten Heeresgruppe aus Ravnhov. Sie stehen kurz vor Mannfalla. Sie sagen, dass sie zu wenige Leute haben und dass sie angegriffen worden sind. Mehrere sind schwer verletzt.«
Schwarzfeuer nickte. »Ich weiß. Aber wir haben vor mehreren Wochen jede Hilfe geschickt, die uns zur Verfügung stand.«
»Nein. Sie sind jetzt angegriffen worden, kürzlich.« Rime reichte ihm den Brief. »Und nicht von Ymlingen. Sie sagen, es sind Nábyrn.«
Schwarzfeuer riss das Papier an sich. Niemand hatte die Blinden gesehen, seit Bromfjell explodiert war. Am Schicksalstag. Am Tag, als Urd starb und der Ritualsaal einstürzte. Als Hirka noch da war. Nun war sie fort und alles hatte darauf hingedeutet, dass es sich mit den Blinden auch so verhalten würde.
Rime umklammerte die Briefhülse. Schwarzfeuer sah ihn an.
»Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst, Rime An-Elderin. Vielleicht hast du den Grund gefunden, den du brauchst, um das Fest abzusagen.«
Der Jäger
Ich habe getötet.
Der Gedanke kam, ehe sie überhaupt wusste, dass sie wach war. Blut hatte ihre Hand gewärmt, als sie das Messer hielt. Sie hatte getötet. Sie war gefallen. »Du sollst nicht töten«, hatte Pater Brody gesagt. Hirka wünschte, er hätte stattdessen gesagt: »Du sollst nicht sterben.« Würde er dann vielleicht noch leben?
Ihre Augen fühlten sich geschwollen an und sie erinnerte sich, dass sie geweint hatte. Das war nicht gerecht. Das Aufwachen sollte unbeschwert, erinnerungslos sein, zumindest für eine Weile. Das hatte sie früher auch schon oft gedacht. In einer anderen Welt. In einer anderen Zeit. In der Hütte in Elveroa, als die Möwen vor dem Fenster schrien und Vater draußen im Zimmer saß und getrocknete Sonnenträne zerstieß. Sie war damals aufgewacht und ein normales Mädchen gewesen. Bis sie sich erinnerte.
Odinskind. Fäulnis. Was bin ich jetzt?
Sobald sie die Augen aufmachte, wäre alles weg. Keine Hütte. Keine Läden vor dem Fenster. Nicht einmal richtige Holzwände. Bloß ein kahles Zimmer in einem Hotel. Ein hohes Wirtshaus, wo niemand jemand anderen kannte. Sie hörte das Rauschen der Stadt. Das war da beim Aufwachen und es war da beim Einschlafen. Dass die Leute hier nicht verrückt wurden, war nicht zu verstehen. Dann fiel ihr wieder ein, was passiert war. Und sie begriff, dass sie genau das waren: verrückt. Alle. Sie hätte nie herkommen dürfen.
Wäre sie in Ymsland geblieben, dann wären sie immer noch am Leben. Pater Brody, Jay und ihre Mutter. Die kleine Schwester. Der Schmerz schwoll in ihrer Brust an. Eine vielschichtige Trauer um alles, was sie verloren hatte, und alle, die sie nicht behalten durfte. Sie war geboren, um ständig auf der Flucht zu sein.
Vorher war sie wenigstens nicht ganz allein gewesen. Sie hatte Kuro gehabt. Einen Freund, der wusste, dass sie die Wahrheit sagte, weil sie zusammen hergekommen waren. Sie hatten ein ›Wir‹ gebildet. Jetzt gab es nur noch sie.
Und den Blinden …
Sie musste hier weg. Sie musste zurück zum Gewächshaus, bevor ihn jemand fand. Bevor er allein herumlief. Nackt. Und ohne etwas über diesen Ort zu wissen, so wie sie bei ihrer Ankunft.
Hirka öffnete die Augen. Eine Lampe mit grünem Schirm summte auf dem Nachttisch. Sie hatte immer noch ihre Kleider an, aber jemand hatte sie zugedeckt. Das musste er gewesen sein. Der Mann, der sie überfallen hatte. Und sie gerettet hatte. Der Mann mit dem Kapuzenpullover. Es roch nach Rauch. Hirka drehte sich vorsichtig um. Er saß auf einem Stuhl beim Fenster und starrte in den grauen Himmel. Die Kapuze war heruntergezogen und sein braunes Haar stand vom Kopf ab wie dickes Gras. Die Spitzen waren von der Sonne gebleicht. Er sah jetzt wie ein anderer aus. Jetzt, da sie wusste, dass er ihr nichts tun würde.
Seine Hand trommelte auf der Armlehne. Zwischen den Fingern steckte eine brennende Zigarette. Jay hatte auch geraucht, aber heimlich, damit СКАЧАТЬ