Название: Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2)
Автор: Siri Pettersen
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9783038801146
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Hlosnian wandte sich zum Gehen. Sein Umhang schleifte durch den Schnee. Die Schneekristalle funkelten auf dem schäbigen Saum.
Rime guckte ins Vogelbecken und sah sein eigenes Gesicht, im Eis eingefroren. Er war blass wie ein Blinder.
Die offene Kirche
Hirka fuhr zusammen. Fast wäre sie eingeschlafen.
Das lag am Ventilator über der Tür. Sein sachtes Surren war einschläfernd.
Sie schaute zu dem Blinden, der auf einem Stapel aus Säcken mit Erde lag. Sie hatte ihr Ersatzstrickhemd über ihn gebreitet. Nicht, weil sie dachte, dass er fror, aber … Hätte sie dort nackt gelegen, dann wäre sie froh gewesen, wenn jemand sie zugedeckt hätte.
Sein Körper zuckte nicht mehr und er atmete ruhiger, zum Glück.
Zum Glück? Er war Nábyrn!
Sie zog die Knie an und lehnte den Kopf an die Wand. Hier drinnen war sie von Pflanzen umgeben, deren Namen sie nicht kannte. Grüne Sprösslinge standen in Töpfen überall auf den Bänken und Tischen. Blumen hingen in Tonkruken von der Decke. Es sah aus wie in einem sommerlich wuchernden Wald. Aber draußen war die Welt weiß. Nasse Schneeklumpen peitschten gegen die Fenster, schmolzen beim Hinabrutschen und türmten sich unten auf der Erde zu Matschhaufen auf. Sie saß in zwei Welten gleichzeitig. In einer, in der Dinge geboren wurden, und in einer anderen, in der Dinge starben. Sie war sich bloß nicht ganz sicher, was das eine und was das andere war.
Es war gut, dass es dunkel war. Das war für sie ein Vorteil, da hatte sie alles im Griff. Sie wusste, dass sie alles, was draußen war, besser sah, als sie selbst gesehen wurde. Niemand konnte sich an sie heranschleichen. Sie schluckte. Erinnerte sich an die Hände des Mannes um ihren Hals. An die Verzweiflung, nichts zu begreifen. Aber er hatte bekommen, was er haben wollte. Er war jetzt bestimmt schon über alle Berge. Wen hatte sie dann gesehen, bevor sie herkam? Wer hatte sie verfolgt? Das mochte der Seher wissen.
Der Seher …
Hirka setzte sich auf und starrte den Blinden an. Alles, was sie über den Seher gehört hatte, wirbelte ihr durch den Kopf. Ein Durcheinander aus Wörtern und Bildern. Er war der Blinde, der seinen eigenen Leuten den Rücken zugekehrt hatte, um Ymsland zu retten. Er nahm die Gestalt des Raben an. Der Seher, den man tausend Jahre lang angebetet hatte. Der Seher, den es nicht gab. Hatte sie nicht genau das geschehen sehen? Kuro hatte seine Gestalt geändert. Vom Raben zum Blinden.
Unsinn! Sieht er etwa wie ein Gott aus?
Hirka krabbelte zu dem Mann. Sie hob die Hand, um ihn mit einem Finger zu piksen. Überlegte es sich aber anders und zog sie zurück. Das war gefährlich. Er war nicht mehr so geschwächt. Sie nahm eine kleine Pflanzschaufel für den Fall, dass er aufwachen sollte. Seine Haare rochen säuerlich nach Rabenblut. Er hatte mehrere geplatzte Adern am Schlüsselbein. Sie breiteten sich wie Bäume aus Tinte unter seiner Haut aus. Die Verletzung sah unpassend auf dem muskulösen Körper aus. Er hatte hohe Wangenknochen, die an Rimes erinnerten. Sein Mund stand halb offen und entblößte das einzig Ungewöhnliche in dem sonst so schönen Gesicht: die Eckzähne.
Er rührte sich nicht. Sie schob seine Oberlippe vorsichtig mit dem Daumen hoch. So lang waren sie nicht. Nicht so lang wie Wolfszähne. Er drehte den Kopf und sie zog schnell den Arm zurück. War sie verrückt? Hatte sie nicht schon mehr als genug von den Blinden gesehen? Wenige wussten besser als sie und Rime, wozu sie in der Lage waren. Ihnen hatte Urd sie versprochen. Als Opfer. Im Tausch gegen was? Wissen über Blindwerk?
Aber der hier konnte keiner von ihnen sein. Der hier war Kuro. Ihr Rabe.
Nein. Nicht mehr. Sie hatte selbst die Reste dessen, was von Kuro noch übrig geblieben war, eingesammelt. Ein blutiger Brei, den sie draußen in eine Mülltonne geworfen hatte. Kuro war tot. Sie hatte ihn verloren. Alles, was noch übrig war, war dieses Wesen. Ein hübsches Untier. Stärker und besser gebaut als jeder Ymling, den sie gesehen hatte. Göttlich? Ja, aber er war jung, erschöpft und roch nach Blut und Verderbnis. Das taten Götter nicht. Außerdem schmatzte der Seher nicht im Schlaf, da war sie sich ganz sicher.
Rime hätte es gewusst.
Rime hätte ihn geweckt und Antworten verlangt. Und er hätte sie beide beschützen können, wenn der Blinde aufwachte. Was konnte sie tun? Ihn mit einer Pflanzschaufel piksen? Sie warf sie weg, schüttelte über sich selbst den Kopf. Das alles war unwirklich. Sie sollte besser von hier wegkommen. Wer auch immer da draußen auf sie wartete, konnte nicht schlimmer sein als das, was hier drinnen war. Und außerdem war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand kam. Es war zwar die Nacht zu Sonntag und die meisten Menschen hatten frei, aber das bedeutete nicht, dass niemand ins Gewächshaus kommen würde.
Aber wohin sollte sie gehen? Sie hatte wenig Geld und Essen, und jetzt hatte sie sich auch noch um einen Totgeborenen zu kümmern. Sie machte die Augen zu. Die Erkenntnis war eine Last. Ja, sie würde sich bald auf den Weg machen. Doch sie wusste: nicht weil sie weglaufen wollte, sondern um ihm zu helfen.
Sie wusste, wie es in der Welt zuging, und er würde sie nicht verstehen. Sie konnte ihn nicht allein auf all das Unbekannte loslassen. So wie es ihr ergangen war. Er brauchte Kleidung. Und Essen. Und er musste ein Bad nehmen, aber sie wusste nicht, wo sie eins auftreiben sollte. Die einzige Möglichkeit war die Kirche …
Konnte sie es wagen? Pater Brody wusste ja noch nicht, dass sie abgehauen war. Das würde er erst im Morgengrauen feststellen. Aber wenn sie jetzt das Gewächshaus verließ, wäre sie nicht sicher. Jemand hatte sie verfolgt. Sie wusste nicht, wer oder warum. Sie musste warten, bis es hell wurde und sie nicht mehr allein auf der Straße war. Niemand würde ihr etwas tun, wenn sie von Leuten umgeben war.
Das war ein seltsamer Gedanke. Und den hatte ausgerechnet sie, die sie sich unter Leuten immer am unsichersten fühlte. Zu Hause war es schon schlimm genug gewesen und hier war es noch schlimmer. Obwohl sie eine von ihnen sein sollte. Ein Mensch. Hier waren alle Odinskinder. Emblasprösslinge. Fäulnis. Warum fühlte sie sich dann so fremd hier?
Hirka stand auf, nahm eine große, buschige Pflanze vom Tisch und stellte sie neben den Blinden. Er schlief noch immer tief und fest. Sie holte noch ein Gewächs. Und noch ein weiteres. Am Ende hatte sie ihn gut hinter einer grünen Wand versteckt. Das Ganze war bestimmt sinnlos. Wenn jemand käme, würden sie ihn ohnehin finden. Aber etwas musste sie tun.
Sie hörte, dass draußen Autos vorbeifuhren. Die ersten Menschen waren aufgewacht. Sie schulterte ihren Beutel und schlich aus dem Gewächshaus.
Der Himmel war grau. Die Kälte nicht mehr so beißend. Sie ging am Zaun entlang zum Fluss. Große Löcher hatten sich jetzt ins Eis geschmolzen. Auf der anderen Seite des Zauns fand sie den Weg zurück zur Kirche, während sie gegen das Gefühl kämpfte, dass sie eine Dummheit machte. Es kam ihr vor, als müsse sie die Füße mit aller Macht weiter vorantreiben. Sie schaute sich verstohlen um, aber es waren nicht viele Menschen zu sehen. Sie war sich unsicher, wie viel Zeit ihr blieb, bis Pater Brody die Kirchentüren öffnete, darum fing sie an zu laufen.
Was sollte sie sagen? Sollte sie erzählen, dass sie eigentlich abgehauen war? Oder sollte sie nur sagen, dass sie die Nacht draußen verbracht hatte? Und was sollte sie von dem Blinden erzählen?
Nein! Er musste ein Geheimnis bleiben. Pater Brody würde ihn als Teufel bezeichnen. СКАЧАТЬ