Название: Die Nacht der Schakale
Автор: Will Berthold
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711726938
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Im Untergrund trägt man kein Herz.
Es zählt nur beim Gegner – als Zielansprache.
»Sie müssen müde sein, Lefty«, erinnerte sich Gregory endlich. »Der Schock und die Strapazen. Schlafen Sie sich gründlich aus. Wir sehen uns morgen früh um neun Uhr wieder, hier in meinem Office.« Er setzte hinzu: »Und es wird interessant für Sie werden.« Ich wußte, daß ich am nächsten Tag Nachträge zu diesem Fall zu sehen bekäme, die er mir bislang unterschlagen hatte.
4
Der Frühsommer spielte Spätherbst. Windstöße und Regenschauer fegten an diesem Samstag die Berliner Straßen von Passanten leer. Auf beiden Seiten den Stadt waren fast nur noch Liebespaare unterwegs, eng aneinandergedrängt, als wollten sie beweisen, daß der Liebe im Lauf der Jahrtausende auch nicht viel Neues mehr eingefallen war. Wenigstens Wetter und Liebesspiel waren noch einheitlich in der zweigeteilten Weltstadt.
Es war nicht die einzige Gemeinsamkeit. Im Osten wie im Westen saß man vor dem Bildschirm und sah meistens das gleiche Programm, aber hier begann bereits wieder der Unterschied: Bei den Werbeeinblendungen wurden die Westberliner vom Überfluß angeödet, während sie den Zuschauern auf der anderen Seite ein Schlaraffenland vorgaukelten. Freilich lag kein Kuchen dazwischen, durch den man sich beißen konnte, sondern die Mauer.
Viel zu schnell jagte eine schwere dunkle Limousine durch die Heinrich-Heine-Straße, die zu einem der Grenzübergänge in der Mauer führte und deshalb mit Sicherheit Tag und Nacht scharf kontrolliert wurde. Ein paar Kilometer Geschwindigkeit zuviel oder auch nur ein Tropfen Alkohol konnten den Führerschein kosten. In diesen Dingen zeigte die Volkspolizei keinerlei Toleranz. Toleranz war ohnedies nicht ihre Stärke. Und – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl – es gab im deutschen Osten doppelt so viele Polizisten wie im Westen.
Westen.
Der eilige Fahrer zwängte sich rücksichtslos an der Schlange Westberliner Fahrzeuge vorbei, die umständlich abgefertigt wurde. Ein Leutnant stellte sich ihm wütend in den Weg. Einen Moment lang sah es aus, als wollte ihn der Wagen mit der Diplomatennummer des Ostberliner Handelsministeriums rammen.
Dann erkannte der Vopo-Offizier den Mann am Steuer. Mitten aus der Bewegung heraus stand er stramm: Der Passierschein dieses Grenzgängers mußte nicht kontrolliert werden. Der Insasse der Nobelkutsche – sowjetisches Fabrikat – stellte selbst Passierscheine aus.
Der Leutnant signalisierte freie Fahrt.
Der Bevorzugte rollte seinen Wagen auf einen reservierten Parkplatz, stellte ihn ab, verschloß ihn sorgfältig, ging um ihn herum und kontrollierte pedantisch noch einmal die rechte Seite.
Fast gleichzeitig, wie zufällig, trat der Spitzenfunktionär vom Staatssicherheitsministerium aus der Wachstube. »Dann wünsche ich einen schönen Abend, Genosse Konopka«, grüßte Gelbrich jovial.
Der späte Grenzgänger war auf die übliche Ost-Anrede wenig erpicht. Genosse kommt von Genuß – und viele der so Titulierten waren wirklich ungenießbar.
»Was ist denn eigentlich heute los? fragte der Prolet vom Dienst im Oberstenrang: »Veranstaltet Ihr im Scheiß-Westen ein Rudelbumsen?«
»Wieso?« fragte Konopka. »Wie kommen Sie darauf?«
»Vor genau zwanzig Minuten ist schon Brosam hier durchgefahren.«
»Was weiß ich«, erwiderte der subversive Diplomat. »Vielleicht hat der Genosse Kammgarn auch noch auf der anderen Seite zu tun.«
»So spät seit ihr noch im Dienst?«
»Sie doch auch, Genosse Gelbrich«, entgegnete Konopka.
»Ich kontrolliere gerade die fortschrittliche Grenze«, stellte der Stasi-Mann fest. »Sondereinsatz außerhalb der üblichen Routine.«
»Und ich passiere sie«, versetzte Konopka. »So ungerecht ist die Welt.« Er lächelte den Oberst an. Was der Mann dachte, lag wie eine abwischbare Schicht auf seinem Gesicht. Spritztour in den Goldenen Westen, was? Einkaufsbummel mit unseren raren Devisen, wie? Und dann raffinierte Kapitalisten-Weiber bumsen, nicht? Mal was anderes als unsere östliche Rohkost, ha?
»Kann ich Ihnen von drüben was mitbringen. Gelbrich?« fragte Konopka.
»Nein, danke«, antwortete der Kollege aus dem Kreis um General Lupus und grinste. »Ich bin Selbstversorger.« Er warf seine halbgerauchte Zigarette im hohen Bogen weg, verfolgte gelassen, wie ein junger Volkspolizist herbeiflitzte, sie ausdrückte und in den Abfalleimer legte.
»Oder vielleicht doch, Genosse Konopka,« Obwohl ihnen keiner zuhören konnte – außer sie belauschten sich gegenseitig selbst mit Wanzen –, setzte er leise hinzu: »Den Sperber, tot oder lebendig. Gefesselt und verschnürt. Anruf genügt, und ich schicke Ihnen einen entsprechenden Kofferraum.«
»Nichts leichter als das«, spottete Konopka. »Haben Sie schon mal einen Geist gefangen, Gelbrich?«
»Bisher nur Weingeist«, versetzte der Oberst. »Alsdann: viel Vergnügen, Genosse!« schloß der Stasi-Funktionär das Gespräch und schaute Konopka mit Wolfsaugen nach.
Der Sperber war seit der Geheimbesprechung bei General Lupus ein beliebtes Gesprächsthema im roten Untergrund. Vielleicht handelte es sich nur um ein Gerücht. Womöglich war er aber auch ein Phantom, dem jeder Vorfall untergeschoben wurde, der sich nicht erklären ließ, ähnlich dem ominösen Legationsrat Erster Klasse in Bonn, der, durch die AA-Akten geisternd, sogar befördert worden war, wiewohl es ihn gar nicht gab. Keiner, der das Sperber-Gerücht kolportierte, wußte, daß er General Lupus in die Hände arbeitete, von Gelbrich und Konopka natürlich abgesehen.
Der Wanderer zwischen beiden Welten passierte eine Art Laufgraben. Er trug einen eleganten Maßanzug aus englischem Tuch, garantiert nicht in einem volkseigenen Betrieb gefertigt. Auch der Schnitt war Made in Western Germany. Meistens sah der rote Diplomat älter aus als 45; er konnte aber auch jünger wirken, vor allem, wenn er lächelte. Er hatte ein Plissee-Face mit vielen Falten, die anzeigten, daß er gewohnt war, schnell zu leben: Vier Ehescheidungen, in sieben Jahren ein halbes Dutzend ungewöhnlicher Affären hatten sich wie Keilschriften in sein Gesicht eingetragen. Manche Frauen mochten es, andere taten es als verlebte Fassade ab.
Jedermann kennt seine Liebesabenteuer selbst am besten, aber Konopka gehörte – ebenso wie zum Beispiel Brosam, Gelbrich, Wellershoff, Lemmers, Laqueur, Sabotka, Grewe und Lipsky – zu den wenigen DDR-Bürgern, die ihre im Ministerium für Staatssicherheit geführten Personalakten selbst einsehen konnten.
Irgendwie arbeiten alle Geheimdienste der Welt nach dem gleichen Schema, testen ihre Geheimnisträger auf Sicherheitsrisiken ab.
Eine Tante in Köln oder eine Verflossene in Frankfurt, gelegentlich ein Glas Bier zuviel oder ein zu großer persönlicher Aufwand waren Minuspunkte, aber für die Männer um General Lupus gab es auch einen Malus für Gegebenheiten, die im Westen unerheblich waren. Laqueur zum Beispiel hatte sich anstrengen müssen, seine Hugenotten-Abstammung vergessen zu lassen; auch Brosam entstammte einer großbürgerlichen Familie. Er hatte in Westberlin eine Freundin, bei der er gelegentlich – wie zum Beispiel heute – nächtigte. Daß er in СКАЧАТЬ