George Orwell: 1984. George Orwell
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу George Orwell: 1984 - George Orwell страница 10

Название: George Orwell: 1984

Автор: George Orwell

Издательство: Автор

Жанр: Контркультура

Серия:

isbn: 9783868208955

isbn:

СКАЧАТЬ die Nähe des Teleschirms abhalten konnte, zog Winston den Sprechschreiber zu sich, blies den Staub aus seinem Mundstück und setzte seine Brille auf. Dann entrollte er vier kleine Papierzylinder, die bereits aus der Rohrpost auf der rechten Seite seines Schreibtisches geplumpst waren, und heftete die Blätter zusammen.

      In den Wänden der Arbeitskabine befanden sich drei Öffnungen. Rechts neben dem Sprechschreiber eine kleine Rohrpost für schriftliche Mitteilungen, links eine größere für Zeitungen und in der Seitenwand, für Winston in bequemer Reichweite, ein großer länglicher Schlitz, der durch eine Drahtgitterklappe geschützt war. Letzterer diente der Entsorgung von Altpapier. Ähnliche Schlitze gab es zu Tausenden oder Zehntausenden im gesamten Gebäude, nicht nur in jedem Raum, sondern auch in kurzen Abständen auf jedem Korridor. Aus irgendeinem Grund hatte man ihnen den Spitznamen »Gedächtnislöcher« verpasst. Wenn man wusste, dass irgendein Dokument zur Vernichtung bestimmt war, oder wenn man auch nur ein Stück Altpapier herumliegen sah, hob man automatisch die Klappe des nächstgelegenen Gedächtnislochs an und warf es hinein, woraufhin es durch einen Strom warmer Luft zu den riesigen Verbrennungsöfen, die irgendwo in den Tiefen des Gebäudes versteckt waren, gewirbelt wurde.

      Winston las die vier Zettel, die er entrollt hatte. Jeder Zettel enthielt eine nur ein oder zwei Zeilen lange Anweisung, in dem Kurzjargon – der kein echtes Neusprech war, aber überwiegend aus Neusprech-Wörtern bestand –, der im Ministerium für interne Zwecke benutzt wurde. Sie lauteten:

       times 17.3.84 gb rede fehlberichtet afrika berichtigen

       times 19.12.83 prognosen 3 jp 4. quartal 83 druckfehler aktuelle ausgabe richtigstellen

       times 14.2.84 minfüll fehlzitiert schokolade berichtigen

       times 3.12.83 bericht gb tagesbefehl doppeltplusungut nennt unpersonen komplett umschreiben präarchiv vorlage

      Mit einem leisen Gefühl der Befriedigung legte Winston die vierte Anweisung beiseite. Das war eine komplizierte und verantwortungsvolle Arbeit, die besser zuletzt erledigt werden sollte. Die anderen drei waren Routineangelegenheiten, obwohl die zweite wahrscheinlich ein langwieriges Durchforsten von Zahlenlisten erfordern würde.

      Winston wählte auf dem Teleschirm »Alte Nummern« und forderte die entsprechenden Ausgaben der Times an, die schon nach wenigen Augenblicken aus der Rohrpost glitten. Die Anweisungen, die er erhalten hatte, bezogen sich auf Artikel oder Nachrichten, die aus dem einen oder anderen Grund geändert oder, wie es in der offiziellen Formulierung hieß, richtiggestellt werden sollten. So stand beispielsweise in der Times vom 17. März, dass der Große Bruder in seiner Rede vom Vortag prophezeit hatte, dass es an der Südindien-Front ruhig bleiben würde, dass aber in Kürze eine eurasische Offensive in Nordafrika erfolgen würde. Tatsächlich hatte nun aber das eurasische Oberkommando seine Offensive in Südindien gestartet und Nordafrika unbehelligt gelassen. Es war daher notwendig, einen Absatz der Rede des Großen Bruders so umzuschreiben, dass er eben das vorhersagte, was tatsächlich geschehen war. Im zweiten Fall hatte die Times vom 19. Dezember die offiziellen Prognosen für die Produktion verschiedener Konsumgüter im vierten Quartal 1983 veröffentlicht, das gleichzeitig auch das sechste Quartal des neunten Dreijahresplans war. Die heutige Ausgabe enthielt eine Aufstellung über die tatsächliche Produktion, aus der hervorging, dass die Prognosen für sämtliche Sparten komplett danebengelegen hatten. Winstons Aufgabe war es, die ursprünglichen Zahlen so richtigzustellen, dass sie mit den späteren übereinstimmten. Was die dritte Anweisung betraf, so bezog sie sich auf einen sehr einfachen Irrtum, der innerhalb von ein paar Minuten korrigiert werden konnte. Noch im Februar hatte das Ministerium für Fülle eine Versicherung abgegeben (ein »kategorisches Versprechen«, so der offizielle Wortlaut), dass es im Jahr 1984 keine Kürzung der Schokoladenration geben würde. In Wirklichkeit sollte, wie Winston nun wusste, die Schokoladenration Ende dieser Woche von dreißig auf zwanzig Gramm herabgesetzt werden. Hier brauchte man nun nichts weiter zu tun, als das ursprüngliche Versprechen durch einen Hinweis zu ersetzen, dass es wahrscheinlich notwendig sein würde, die Ration irgendwann im April zu kürzen.

      Sobald Winston sich mit einer Anweisung befasst hatte, heftete er seine sprechgeschriebenen Korrekturen an die entsprechende Ausgabe der Times und schob sie in die Rohrpost. Dann zerknüllte er mit einer beinahe unbewussten Bewegung die ursprüngliche Anweisung sowie jegliche Notizen, die er dazu gemacht hatte, und warf sie in das Gedächtnisloch, um sie von den Flammen verzehren zu lassen.

      Was in dem unsichtbaren Labyrinth geschah, zu dem die Rohrpostleitungen führten, war ihm nicht im Detail, sondern nur in groben Zügen bekannt. Sobald alle Korrekturen, die für eine bestimmte Ausgabe der Times erforderlich waren, zusammengetragen und prüfend verglichen worden waren, wurde diese Ausgabe neu gedruckt, das Original vernichtet und die korrigierte Ausgabe an ihrer Stelle ins Archiv eingestellt. Dieser kontinuierliche Änderungsprozess wurde nicht nur auf Zeitungen angewandt, sondern auch auf Bücher, Zeitschriften, Broschüren, Plakate, Flugblätter, Filme, Tonspuren, Cartoons, Fotografien – auf jede Art von Literatur oder Dokumentation, die irgendeine politische oder ideologische Bedeutung haben könnte. Jeden einzelnen Tag und beinahe minütlich wurde die Vergangenheit auf den neuesten Stand gebracht. Auf diese Weise konnte durch dokumentarische Beweise nachgewiesen werden, dass jede Vorhersage der Partei richtig gewesen war, und es durften natürlich auch keine Aufzeichnungen über Nachrichten oder Meinungsäußerungen aufgehoben werden, die den augenblicklichen Gegebenheiten widersprachen. Die gesamte Geschichte war ein einziges Palimpsest, das so oft wie nötig gereinigt und neu beschrieben wurde. In keinem der Fälle wäre es möglich gewesen, nach Durchführung der Aufgabe zu beweisen, dass eine Fälschung stattgefunden hatte. Die größte Sektion der Dokumentationsabteilung, weitaus größer als die, in der Winston arbeitete, bestand aus Menschen, deren Aufgabe es war, alle Ausgaben von Büchern, Zeitungen und anderen Dokumenten, die überholt waren und zur Vernichtung anstanden, aufzuspüren und zu beschaffen. Eine Ausgabe der Times, die aufgrund von Veränderungen in der politischen Ausrichtung oder irrtümlichen Prophezeiungen des Großen Bruders vielleicht ein Dutzend Mal umgeschrieben worden war, stand nichtsdestoweniger mit dem ursprüngliche Datum im Archiv, und es existierte nirgendwo eine andere Ausgabe, die mit ihr im Widerspruch stand. Auch Bücher wurden immer wieder aus dem Verkehr gezogen und umgeschrieben und ohne jeglichen Hinweis auf vorgenommene Veränderungen neu aufgelegt. Sogar in den schriftlichen Anweisungen, die Winston erhielt und die er sofort vernichtete, sobald er sich mit ihnen befasst hatte, wurde nie erwähnt oder angedeutet, dass eine Fälschung vorgenommen werden sollte: Es handelte sich immer um Versehen, Irrtümer, Druckfehler oder falsch Zitiertes, die im Interesse der Genauigkeit korrigiert werden mussten.

      Aber eigentlich, dachte er, als er die Zahlen des Ministeriums für Fülle anpasste, war es ja gar keine Fälschung. Es wurde lediglich ein Unsinn durch einen anderen ersetzt. Der größte Teil des Materials, das man bearbeitete, stand in keinerlei Zusammenhang mit irgendetwas in der realen Welt, nicht einmal in der Art von Zusammenhang, der in einer direkten Lüge enthalten ist. Statistiken waren in ihrer Originalfassung genauso ein Fantasieprodukt wie in ihrer korrigierten Version. Meistens wurde von einem erwartet, dass man sie sich einfach ausdachte. So hatte beispielsweise das Ministerium für Fülle in seiner Prognose die Stiefelproduktion für das Quartal auf 145 Millionen Paar geschätzt. Die tatsächliche Produktion wurde mit 62 Millionen angegeben. Beim Umschreiben der Prognose hatte Winston die Zahl jedoch auf 57 Millionen herabgesetzt, um der üblichen Behauptung Rechnung zu tragen, die Quote sei übererfüllt worden. In jedem Fall aber kamen 62 Millionen der Wahrheit nicht näher als 57 Millionen oder als 145 Millionen. Sehr wahrscheinlich waren überhaupt keine Stiefel produziert worden. Noch wahrscheinlicher war, dass niemand wusste, wie viele produziert worden waren, geschweige denn, dass sich überhaupt jemand darum scherte. Man wusste nur, dass in jedem Quartal astronomische Mengen von Stiefeln auf dem Papier produziert wurden, obwohl schätzungsweise die Hälfte der Bevölkerung Ozeaniens barfuß lief. Und so verhielt es sich mit allen aufgezeichneten Tatsachen, ob sie nun bedeutend oder unbedeutend waren. Alles verblasste in einer Schattenwelt, in der letztendlich sogar die Jahreszahl ungewiss geworden war.

СКАЧАТЬ