Название: Die Siebte Sage
Автор: Christa Ludwig
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9783772542701
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Wer sehr genau hinschaute, konnte erkennen, dass Sidi Antvaris Hand jetzt wirklich entspannt auf dem Teetisch lag. Er lächelte und sagte: «Das ist deine Mutter, Zaiira. Es ist nicht das erste Mal, dass sie es ist, die den kühnsten und klügsten Gedanken hat. Sprich weiter, Amira.»
«Ein elfjähriges Mädchen ist heute von einem Baum gefallen. Es hat sich ein Bein gebrochen. Und es hat eine Kopfverletzung, die schlimm aussieht, aber es ist nicht gefährdet. Zu diesem Kind werden morgen die Männer geführt, die nach Dshirah suchen. Tazihlos Frau wird an ihrem Bett sitzen.»
«Und die wirkliche Mutter des Kindes?», unterbrach Antvari.
Die Siada zuckte die Achseln.
«Die müssen wir betrügen, es tut mir leid. Der Arzt könnte ihr sagen, dass sie ihr Kind jetzt nicht besuchen kann, weil er das Bein operieren muss. Nur eine kleine Operation, nur am Bein, nicht am Kopf. Wir wollen die Mutter nicht ängstigen.»
«Aber das Kind selber. Was wird es sagen?»
«Nichts. Es bekommt Opium, tut mir leid. Schmerzmittel geben sie ihm ohnehin. Dann kriegt es eben ein bisschen mehr. Es wird ihm nicht schaden. Der Arzt ist sehr gut.»
«Der – Arzt», begann Tazihlo zögernd, «er ist ein Barde?»
«Er ist Aramine», sagte die Siada, «und das ist gut. Ich weiß nicht, ob wir einen Barden für diesen Plan gewinnen könnten. Ich würde es auch nicht gern tun, denn er wagt viel. Dieser Arzt wird euch helfen. Er ist ein Aramine mit Herz und zerbissener Zunge.»
Januão verstand. Alle hatten verstanden. Bis auf Zaiira. Die starrte ihre Mutter an.
«Hast du keine Angst?», fragte sie. «Warum hast du auf einmal keine Angst?»
Amira lächelte. Sie sah ein wenig traurig aus.
«Meine Tochter kennt mich nicht», sagte sie. «Da habe ich dem Haus Al-Antvari keinen Sohn geboren. Das ist schlimm genug. Nun habe ich eine Tochter, und sie wächst mit ihrem Vater auf wie ein Sohn und kennt mich nicht. Nein, Zaiira, wenn ich weiß, dass es richtig ist, was ich tue, habe ich nie Angst. Und ein Aramine kann nichts Richtigeres tun als seine Zunge zerbeißen.»
‹Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge.›
Alle im Land kannten diesen Satz. Nicht alle wussten, was er bedeutete. Ihren Kindern erzählten die Araminen es nicht gern. Sidi Antvari stand auf.
«Wir müssen es ihr jetzt sagen.»
Zaiira war sehr blass, aber sie hob den Blick und schaute zu ihrem Vater auf.
«Zaiira, deine Familie ist vornehm, aber nicht gut. Die Antvaris gehörten zu jenen Araminen, die vor vierhundert Jahren den Barden ein grausames Unrecht zugefügt haben. Damals hat man den Barden ihre Bücher verbrannt, ihre Sprache und ihre Schrift verboten. Nur sechs von den Sieben Sagen haben sie vorher aufgeschrieben, die haben ihnen gefallen, warum auch immer.»
«Du meinst, die Sieben Sagen sind wirklich bardisch?»
«Wir vermuten es. Aber es ist nicht ratsam, das laut zu behaupten. Vor ungefähr fünfzehn Jahren haben das welche getan. Sie haben es bereut.»
«Aber warum ist die Siebte Sage verloren gegangen?»
«Das ist sie nicht, glauben wir. Mit wir, Zaiira, meine ich jetzt nicht die Araminen in den Gerichtssälen oder an den Schulen. Es gibt ein heimliches Bündnis unter Araminen. Wir nennen es: ‹Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge›. Und wir sind ziemlich sicher, dass die Siebte Sage damals vernichtet wurde, verboten, vernichtet, sie passte nicht in das Reich des Kalifen. Erst seit Kalif Obayan I. sucht man sie. Es war Armei dan Hasud, der gefordert hat, man müsse die Siebte Sage finden, aber es weiß keiner mehr, wovon sie erzählt.»
«Und warum soll ein Aramine mit Herz seine Zunge zerbeißen? Ich kenne den Satz, aber ich habe ihn nie verstanden.»
Ihr Vater schwieg.
«Du musst es ihr jetzt sagen», verlangte ihre Mutter.
Er nickte.
«Weißt du, Zaiira, man kann einem Volk seine Geschichten nicht nehmen. Sie werden weitererzählt, heimlich des Nachts, den Kindern in den Schlaf hinein. Das haben unsere, deine Vorfahren verhindert. Sie haben allen Barden so lange die Zungen herausgeschnitten, bis sie glaubten, dass alles vergessen sei. Nun, sie haben sich geirrt.»
Januão schaute Zaiira an. Sie hockte auf ihrem Kissen, und der Mund war ihr aufgefallen, so weit auf, dass er ihre Zunge sehen konnte. Er sah, wie sie die Zunge tief in den Hals zurückzog, bis sie würgen musste.
‹Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge.›
Von nun an würde sie zu diesen Araminen gehören. Das machte das Lachen und Fröhlichsein sehr viel schwieriger. Sie tat ihm leid.
«Sag ihr alles!», verlangte die Siada.
Sidi Antvaris Hand verkrampfte sich am Rand des Tisches, auf dem immer noch kein Tee stand.
«Das muss nicht sein.»
«Doch», beharrte die Siada, «sie ist jetzt zwölf.»
Antvari nickte.
«Du musst nicht erschrecken, Zaiira, mehr wissen wir gar nicht. Armei dan Hasud schrieb vor ungefähr 250 Jahren sein berühmtes Buch über das Vergessen. Er wollte damit einen Schlussstrich ziehen unter alles, was gewesen war. Immerhin leben wir seitdem mit den Barden in Frieden und Gerechtigkeit. Das Seltsame ist nur – wir können nicht vergessen. Es gibt viele Araminen, die einfach nicht vergessen können, was sie den Barden angetan haben. Fällt das Vergessen den Barden leichter?»
Er warf Tazihlo einen zögernden Blick zu. Der wich ihm aus.
«Und, Zaiira», fuhr Sidi Antvari fort, «das Schlimmste ist: wir haben doch etwas vergessen. Und wir wissen nicht was. Wir haben es so gründlich vergessen, dass wir nicht einmal mehr wissen, was damals geschehen ist. Übrig geblieben ist ein quälendes Nicht-Wissen, ein zermürbendes Ahnen. Es muss da noch etwas gewesen sein, ein grausames Verbrechen, das die Araminen an den Barden begangen haben.»
«Schlimmer als das Herausschneiden der Zungen?», würgte Zaiira.
Ihr Vater zuckte die Achseln.
«Wir wissen es nicht.»
Die Siada stand auf.
«Ihr reitet jetzt zurück und holt ein Hirtenhemd von Dshirah», bestimmte sie. «Ihr gebt es nicht im Pferdehof ab, sondern bringt es zur Straße, wir erwarten euch. Ich schreibe inzwischen den Brief an den Arzt.»
«Und ich», sagte der Sidi, «bringe beides zum Krankenhaus. Niemand außer uns wird davon wissen.»
Mitten in Januão, in seinem Bauch, erklang ein kleines fröhliches Lied. Er lauschte und vergaß das Schauen. Kaum nahm er wahr, wie sein Vater dankte und sich verabschiedete. Er hätte jetzt gar zu gern Flöte gespielt. So stolperte er neben seinem Vater hinaus.
Zaiira blieb zurück und würgte an ihrer СКАЧАТЬ