Letzter Weckruf für Europa. Helmut Brandstätter
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СКАЧАТЬ darauf zu sprechen, was uns nun bedroht: „Wenn in den nächsten Jahrzehnten irgendetwas über 10 Millionen Menschen töten wird, dann wird das eher ein hochinfektiöses Virus als ein Krieg sein. Wir haben weltweit sehr viel Geld in die Abwehr von Raketen investiert, aber nur sehr wenig, um eine Epidemie zu stoppen.“ Gates führt als Beispiel den Ebola-Ausbruch im Jahr 2014 in Westafrika an, wo es trotz des Mangels an Daten und Ärzten gelungen war, die Seuche einzugrenzen. Ein wichtiger Grund dafür war, dass das Ebola-Virus nicht durch Luftpartikel übertragen wird. Aber, so meinte er, es werde ein Virus kommen, bei dem das wieder der Fall sein werde, wie bei der Spanischen Grippe, die im Jahr 1918 weltweit 33,3 Millionen Todesopfer gefordert hat. Auf eine ähnliche Herausforderung müssten wir uns jetzt wie auf einen Krieg vorbereiten, so Gates. Dann forderte der drittreichste Mensch der Welt folgende Maßnahmen: Verbesserung der Gesundheitssysteme in armen Ländern sowie medizinische Einsatztruppen, die mit dem Militär und dessen Logistik zusammenarbeiten würden. Außerdem müssten die Wissenschaftler „Germ Games“, also Simulationen der Ausbreitung durchführen, um sie besser verstehen zu können. Die Forschung würde viel Geld kosten, aber das sei bescheiden verglichen mit den 3 Billionen Dollar, die eine Pandemie kosten werde, abgesehen von den vielen Toten, die zu erwarten seien. Schließlich würde die gemeinsame Verbesserung des Gesundheitssystems mehr Gerechtigkeit auf der Welt schaffen. Er wolle seinen Talk als einen Weckruf verstanden wissen, so Gates. Doch dieser wurde nirgendwo gehört, auch in Europa nicht. Dafür wurde Bill Gates später von Verschwörern beschuldigt, er wolle mit Impfungen viel Geld verdienen. Als ob das die Sorgen des reichsten Mannes der Welt wären.

      Anfang August 2020 wurde geschätzt, dass das Virus in Europa rund 200.000 Menschen getötet hat, wobei Großbritannien mit rund 46.000 die meisten Toten zu beklagen hatte, gefolgt von Italien (35.000), Frankreich (30.000) und Spanien (29.500). Die USA hatten zu diesem Zeitpunkt über 153.000 Corona-Tote zu verzeichnen, weltweit waren es 670.000, über 17 Millionen waren infiziert (Quelle: jhu.edu, Johns Hopkins University, auf deren Website die Zahlen täglich erneuert werden). Die Europäische Zentralbank (EZB) rechnete Ende April mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in der Eurozone um geschätzte zwölf Prozent. Die Corona-Pandemie war ein „symmetrischer Schock“, wie Angela Merkel öfter betonte. Sie hat alle Länder gleichermaßen bedroht. Aber dass sich die Wirtschaftskrise in den verschiedenen Teilen der EU unterschiedlich, also asymmetrisch auswirken würde, war auch bald klar.

      Das Bild der EU

      Wer oder was ist denn diese Europäische Union eigentlich? Oft einfach nur ein bewusst gesteuertes Missverständnis der nationalen Regierungen. Denn in vielen Fragen haben sie, die Staatsund Regierungschefs, die sich im Europäischen Rat treffen, die Entscheidungsgewalt. Aber wenn etwas nicht funktioniert, dann zeigen fast alle mit dem Finger auf Brüssel. Wenn es besonders schlicht hergeht, wird die Bürokratie verantwortlich gemacht, die zu kostspielig sei. Bei einer Sitzung des EU-Hauptausschusses im Jänner 2020 argumentierte Bundeskanzler Kurz, trotz Brexit würde die Brüsseler Bürokratie immer teurer. Er versuchte das auch mit Berechnungen zu unterlegen, die allerdings nicht stimmten. Fakt ist vielmehr: Die EU-Kommission muss für die nächsten sieben Jahre eine Steigerung der Verwaltungsausgaben um sieben Prozent kalkulieren, weil die Pensionskosten in den kommenden Jahren höher werden, wie auch in jeder nationalen Bürokratie. Für die Arbeit der Kommission wurde nur eine Steigerung um die Inflationsrate einberechnet. Seitenhiebe gegen „die Bürokraten in Brüssel“ waren und sind wir von der FPÖ oder der AfD gewohnt. Es ist erstaunlich, wie locker Kurz diese Sprüche übernimmt. Das war auch später so, als es um die Finanzierung des Recovery Programms nach der Pandemie ging (siehe Kapitel Geld, ab S. 85).

      Die Wahrheit ist, dass für alle EU-Institutionen rund 50.000 Menschen arbeiten, also ein Beamter auf rund 10.000 Einwohner kommt. Kurz sprach sich bei diesem EU-Hauptausschuss auch gegen eine Erhöhung der Mittel für die Forschung aus. Genau dort werden wir aber dringend mehr Geld brauchen. Umgekehrt argumentierte er, dass er die Landwirtschaft mit nationalen Mitteln unterstützen werde, wenn es wegen eines geringen EU-Budgets weniger Geld aus Brüssel geben sollte.

      Die EU ist praktisch für die nationale Politik. Wenn etwas schief geht, dann waren es „die in Brüssel“. Für Erfolge sind natürlich die eigenen hervorragenden Ideen und Handlungen zuständig. Diese Methode kann scheitern, wie wir beim Brexit gesehen haben. Premierminister David Cameron hat zwar gerne die Vorteile der EU betont, wenn er aber in seiner konservativen Partei unter Druck kam, hat er gegen Brüssel argumentiert. Beim Referendum wollte er dann eine Mehrheit erreichen, aber da waren „die Dämonen schon entfesselt“, wie in einem 2016 erschienenen, gleichnamigen Buch seines Pressesprechers Craig Oliver detailliert und eindrucksvoll geschildert wird. Wenn eine Institution immer für alles Negative verantwortlich ist, dann ist auch der Ruf nach der Beendigung eines solchen Verhältnisses verständlich.

      Aber ein Blick auf den Globus zeigt, dass auf der Welt nur noch Mitspieler ernst genommen werden, die stark und selbstbewusst auftreten. Großbritannien hat einen Vertrag mit China über die Freiheiten in der ehemaligen Kronkolonie Hongkong. Die Führung in Peking missachtet dieses Abkommen seit kurzem geradezu provokant, zuletzt durch das sogenannte Sicherheitsgesetz. Wären die Briten Teil einer starken EU, dann würden die Chinesen in Hongkong wohl vorsichtiger agieren. Die Europäische Union muss sich der weltpolitischen Realität stellen, und zwar gemeinsam, mit allen Konsequenzen, bis hin zu einem starken militärischen Auftreten. Andernfalls wird die EU nicht mehr sein als eine Verbindung von ein paar wirtschaftlich stärkeren und einigen schwächeren Ländern mit wunderschöner Landschaft und wechselhafter, oft bedeutsamer Geschichte.

      Während der Corona-Krise haben die Regierungen der Länder überwiegend allein gehandelt. Gesundheit gehöre in ihre Kompetenz, hieß es immer. Wir befinden uns jedoch auch mitten in einer riesigen Wirtschaftskrise. Nur wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten glaubt, dass diese gemeinsam besser zu bewältigen ist, dann wird sich die EU verändern. Wenn nicht, dann kann sie zerfallen. Welche gefährlichen Konsequenzen das Ende der EU und der Zerfall Europas nicht nur für unseren Kontinent, sondern für die ganze Welt hätte, wird noch behandelt werden. Der Blick zurück zeigt uns jedenfalls, dass auf diesem Kontinent Großes erfunden und geleistet wurde, Konflikte in Europa aber immer gewaltsam ausgetragen wurden. Die Hoffnung lebt, dass wir aus der Geschichte gelernt haben.

      KAPITEL 3

      GESCHICHTE

      KRIEGE, FRIEDEN UND DAS SPIEL MIT EMOTIONEN

      In keinem anderen Kontinent sind auf so engem Raum so viele unterschiedliche Sprachen, Kulturen und Lebensweisen entstanden, keine Gegend auf der Welt wurde so oft von Völkerwanderungen verändert. Das günstige Klima und die vielen miteinander verbundenen Wasserstraßen haben diese Mobilität begünstigt. Später sind von hier aus Forscher und Abenteurer in großer Anzahl aufgebrochen, um die ganze Erde zu entdecken, immer neugierig, manchmal aber auch nur gierig.

      Aber seit Menschen in Europa lebten, wurde hier Krieg geführt: um Raum für den Anbau von Lebensmitteln, später um Grenzen, Religionen oder einfach zur Demonstration von Macht. Schon Ausgrabungen aus der Steinzeit erzählen von grausamen Auseinandersetzungen bis hin zum Kannibalismus. Vor 45.000 Jahren kam der Homo Sapiens nach Europa; vor 8.000 bis 9.000 Jahren wurden die Menschen sesshaft, lebte von Ackerbau und Viehzucht und verwendete keramische Gerätschaften. Seit dieser Zeit, der sogenannten neolithischen Revolution, sind die ältesten bäuerlichen Kulturen in Mitteleuropa nachweisbar. In Herxheim in der Pfalz fand man etwa 450 Schädel, Zeugen roher Gewalt, die rund 5.000 v. Chr. ausgeübt wurde. Zur gleichen Zeit gab es in Niederösterreich das „Massaker von Schletz“. In Aspern an der Zaya wurden die Überreste von rund 200 Menschen gefunden, die durch Hiebe auf den Kopf getötet worden waren, wie die Schädelfunde zeigen.

      Gründe für einen Krieg gab es СКАЧАТЬ