Letzter Weckruf für Europa. Helmut Brandstätter
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Letzter Weckruf für Europa - Helmut Brandstätter страница 6

СКАЧАТЬ Hinweis auf jüdisches Leben nördlich der Alpen. Später wurde die jüdische Bevölkerung oft bestenfalls geduldet, um sie als Händler oder Banker zuzulassen, immer wieder ausgegrenzt oder gar in schrecklichen Pogromen verfolgt. So gehört auch der Holocaust zu unserer Geschichte. Die Erinnerung daran und ein glaubwürdiges „Nie wieder!" müssen Teil des europäischen Erbes sein. Und unser Respekt muss darüber hinaus allen Opfern des Nationalsozialismus gelten.

      Das Christentum war prägend, zunächst im Untergrund, dann als katholische Staatsreligion in Verbindung mit der staatlichen Macht, wo das Versprechen des Himmelreichs gefügig machen sollte: als staatlicher Protestantismus, nationale Orthodoxie in den slawischen Ländern und schließlich als Auslöser oder auch nur Ausrede für Religionskriege. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn hat mir in einem Interview einmal klar gesagt, dass sich die Aufklärung positiv auf die katholische Kirche ausgewirkt hat. Das Primat des Staates über jede Religionsgemeinschaft darf nicht in Zweifel gezogen werden, das hat die katholische Kirche mühsam gelernt, das müssen manche Muslime noch verstehen, wenn sie in Europa leben wollen. Gelebte christliche Nächstenliebe haben Organisationen wie Caritas oder Diakonie im Zuge der Flüchtlingskrise bewiesen. Sie haben nicht danach gefragt, wer welcher Religion angehört, sondern einfach geholfen haben. So gesehen hat das „christliche Abendland“, das Viktor Orbán so gern beschwört, mit gelebtem Christentum nichts zu tun. Die Trennung von Kirche und Staat muss in Europa ebenso unbestritten sein wie Religionsfreiheit, aber auch das Faktum, dass nur staatliche Gesetze gelten können. Das hat jeder zu akzeptieren, der hier leben will.

      Wer gefährdet das Zusammenwachsen, das Herausbilden der gemeinsamen Identität? Im Moment sind es gar nicht die rückwärtsgewandten Nationalisten, die diesen Prozess gefährden. Es sind vielmehr Politiker, die aus Unsicherheit darüber, wie ein gefährliches Virus einzudämmen ist, wieder nur in nationalen Dimensionen denken und handeln. Und Populisten, die die Angst der Menschen für autoritäre Maßnahmen nützen und noch mehr Angst schüren, um als „starke Männer“ auftreten zu können. Die Geschichte der letzten 75 Jahre beweist, dass wir die großen Herausforderungen immer nur gemeinsam bewältigt haben. Das Virus weist uns darauf hin, dass nun vieles, was selbstverständlich war, gefährdet ist: unsere Sicherheit, unser Wohlstand, generell unsere an Freiheit orientierte Lebensart. Um das alles zu erhalten, müssen wir jegliche Illusion verlieren und gemeinsam das Richtige tun.

      KAPITEL 2

      ILLUSION

      WIR EUROPÄER KÖNNEN UNS NUR SELBST HELFEN

      Wir haben zu lange in der Illusion gelebt, dass die EU sich von selbst weiterentwickeln, dass der Handel den Wandel bringen und der Wohlstand den Frieden erhalten würde. Und dass die Jungen nicht mehr über Europa reden würden, weil sie es ja täglich leben. Was für ein Irrtum.

      Gerade weil die offenen Grenzen selbstverständlich geworden waren, wurden sie bald nicht mehr so geschätzt wie zu Beginn, als der Abbau von Schlagbäumen noch ein Medienereignis war. Dazu kam eine Generation von Politikern, die historisch nicht unbedingt gebildet, jedenfalls aber persönlich in die Geschichte Europas nicht mehr involviert ist und das Zusammenleben in der EU emotionslos sieht, sogar eher als technokratische Aufgabe empfindet. Emotionen werden hingegen bewusst in den Nationalstaaten und den heimischen Medien eingesetzt, sie sind für viele Politiker ein Vehikel, um nationale Mehrheiten zu schaffen, anstatt den europäischen Zusammenhalt zu fördern. Und die Mehrheiten suchen sie oft nur, um die Macht mit einer kleinen Gruppe von Vertrauten zu genießen.

      Einen Weckruf braucht, wer andernfalls zu lange schläft. Oder wer aufstehen muss, weil er viel zu tun hat. Beide Gründe treffen auf Europa zu, also genau genommen auf die Europäische Union. Sie hat schon lange einen weiteren Weckruf nötig, weil sie bereits einiges verschlafen hat. Dabei schläft die EU oft schlecht und wird manchmal von Alpträumen wie dem Austritt eines Mitglieds geplagt. Ob die Folgen von Covid-19 als Weckruf ausreichen, werden wir erst sehen. Dabei wird das Bild vom „Weckruf für Europa“ schon länger und immer wieder verwendet, wenn eine neue Herausforderung auf die EU zukommt.

      Hugo Portisch hat im Jahr 2017 aus aktuellem Anlass ein Buch geschrieben: Leben mit Trump, ein Weckruf. Donald Trump und seine Unberechenbarkeit mögen uns in Europa doch endlich dazu bringen, auf uns selbst zu schauen, so der Appell des großen Publizisten. Aber: Weder das Selbstbewusstsein noch die Selbstverteidigungskräfte der Europäer sind seither gestiegen.

      Die Friedrich Ebert Stiftung hat im Jahr 2019 erhoben, dass sich die Europäer nicht sicher fühlen würden und sogar Krieg wieder für möglich hielten, das müsse doch ein Weckruf sein, wurde beim Forum Alpbach im Herbst desselben Jahres erörtert. Dieses Thema beschäftigt also schon länger Politik und Publizistik – ohne sichtbares Ergebnis oder gar sinnvolle Konsequenzen.

      Angela Merkel nannte im Jänner 2020 in Davos den Brexit einen „Weckruf für Europa“, da hatte sich die Union bereits mit dem Ausscheiden der Briten abgefunden, aber insoweit bewährt, als die EU bei den Verhandlungen mit der britischen Regierung – zuerst mit Theresa May und dann mit Boris Johnson – geschlossen auftrat. Immerhin. Aber aus irgendeinem Grund, den wir herausfinden müssen, üben sich die Europäer, vor allem ihr politisches Führungspersonal, in Vorsicht bis hin zur Passivität, die ihnen mehr und mehr schadet. Nirgendwo ist Aufbruchstimmung zu spüren, stattdessen sind mancherorts Rückschritte zu verzeichnen. Die Führungen in Deutschland und Frankreich, früher „der Motor der EU“, ließen jahrelang völlig aus, bis Merkel und Macron die Initiative ergriffen. Fairerweise wollen wir zugeben, dass sie es nicht leicht haben. Wenn Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing in den 1970er Jahren kooperierten oder anschließend Helmut Kohl und François Mitterand, dann fühlten sich andere Länder manchmal überrollt. Wenn Angela Merkel weder mit Nicolas Sarkozy noch mit François Hollande zusammenfand, war es auch nicht recht. In der Pandemie zeigten Merkel und Emmanuel Macron, dass die beiden Staaten sehr viel bewegen können, wenn sie einig auftreten. Ihr Vorschlag zum großen Paket der 500 Milliarden führte schnell zu einer Initiative der Kommission, die 250 Milliarden draufpackte. Vier kleine Staaten, die sich „frugal“ nannten, aber unwillig wirkten, haben reagiert, aber sich am Ende – beim langen EU-Gipfel im Juli – zumindest eingeschränkt solidarisch gezeigt.

      Schon vor der Krise machten sich Regierungen in Osteuropa ostentativ über die europäischen Werte lustig oder ignorierten sie. Beim Geldverteilen zur Bewältigung der Krise tauchte plötzlich die Frage auf, ob Ungarn und Polen nicht zuerst ihre mangelnde Rechtsstaatlichkeit korrigieren müssten, bevor sie Zuschüsse kassieren könnten. Die Krise als Katharsis. Und die notwendige Erweiterung um die Staaten des Westbalkan wurde von vielen Mitgliedstaaten allzu lange nicht ernst genommen. Zum Schaden der Menschen in diesen Ländern, die nach Jahrzehnten von Kommunismus und Kriegen so sehr an Europa glauben, aber auch zum Schaden der EU. Auch hier schärfte die Krise den Blick, weil China sich als großzügiger Spender von Gesundheitsmaterial feiern ließ und dann klar wurde, dass die geschickten Planer aus Peking schon einen Teil der Infrastruktur des Balkan beherrschen.

      Das Corona-Virus kam mit einer Wucht über ganz Europa, auf die niemand vorbereitet war. Dabei war beim Ausbruch Ende Dezember 2019 in Wuhan in der chinesischen Provinz Hubei schon absehbar, dass die ganze Welt davon betroffen sein würde. Andere Infektionen hatten Jahrhunderte davor schon ohne Flugzeuge und Kreuzfahrtschiffe den Erdball erobert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch europäische Bürger, unser Wirtschaftssystem und unser ganzes Leben darunter leiden würden. Ob es das generelle Überlegenheitsgefühl des Westens war oder die Hoffnung auf das bessere Gesundheitssystem – das Virus wurde lange unterschätzt und erwischte uns weit stärker, als wir uns das hätten vorstellen können, wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausprägungen quer über den Kontinent.

      Die Illusion der falschen Bedrohungen

      „Ein Europa, das schützt“ war die gefällige Losung, СКАЧАТЬ