Letzte Geschichten. Ольга Токарчук
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Название: Letzte Geschichten

Автор: Ольга Токарчук

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783311701682

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СКАЧАТЬ sich zu Hindernissen verwickeln, Schlingen, Kreise und Spiralen bilden. Ida betrachtet diese Bewegung vor dem Fenster, und sie meint hinter diesem Wogen dunklere, entferntere Gestalten zu erkennen. Sie legt den Hörer, den sie gedankenlos die ganze Zeit in der Hand gehalten hat, wieder auf die Gabel und nimmt eine dampfende Pellkartoffel aus dem Topf. Sie ist heiß, die Haut lässt sich in Streifen abziehen.

      So kochte ihre Mutter die Kartoffeln für die Hühner, sie knetete sie und gab gemahlenen Weizen dazu. Eine Zeit lang hatten sie ziemlich viele Hühner, bis der Fuchs sie holte. Er war fleißig, jede Nacht ein Huhn, so ging es einen Monat lang. Zum Schluss blieb noch eines übrig, ein mutiges, kämpferisches Huhn. Ganze Tage verbrachte es auf der Treppe vor dem Haus, es fühlte sich zu den Menschen hingezogen, vielleicht aus Einsamkeit, vielleicht wegen des Fuchses. Die Mutter jagte es fort, sie mochte keine Hühner, überhaupt keine Vögel, sie ekelte sich vor Federn, Eiern und Fleisch. Der Vater rupfte die geschlachteten, abgebrühten Hühner. Die Mutter ging dann in den Garten, um Unkraut zu jäten, oder sie ging einfach aus. Sie trug immer Strümpfe, im Haus dicke, die mit Strumpfbändern gehalten wurden; wenn sie ausging, zog sie dünne, schlüpfrige Strümpfe an, dann sahen ihre Beine aus wie die einer Plastikpuppe. Zu den dünnen Strümpfen trug sie einen Strumpfhalter, und die Knipsverschlüsse griffen fest in das knisternde Nylon und hielten es stramm, in permanenter Bereitschaft. Eines Nachts verschwand auch das mutige Huhn.

      Ida beißt in die Kartoffel, sie ist wohlschmeckend, weich, zerschmilzt sofort mit einer angenehmen Wärme im Mund.

      Wenn die Mutter ausging und sie und ihr Vater weit weg ihre Gestalt in einem ihrer geblümten Kleider sahen, wie sie fast im Laufschritt ins Dorf hinuntereilte, warf der Vater der Tochter einen flüchtigen Blick zu, als bitte er um Verständnis für die Mutter, als wollte er sagen: »Es ist nicht ihre Schuld, dass sie so ist«, und dann kehrte er zu seinen stillen Arbeiten zurück.

      Die Untersuchungen ergaben nichts Bemerkenswertes. Sie hatte eine leichte Arhythmie, wahrscheinlich seit ihrer Geburt oder infolge von Anginen in der Kindheit.

      »Nichts Gefährliches. Sie sind gesund«, sagte der Arzt und warf einen Blick auf die zwei Ziffern, die am oberen Rand ihrer Karte standen. 54. »Für Ihr Alter sind Sie in guter Kondition.«

      Dann füllte er schweigend ein Rezept aus, ein mildes Beruhigungsmittel, für den Schlaf, zur Stärkung.

      An einem Samstag Anfang Dezember fuhr sie in eine saubere, sterile Privatklinik. Sie bekam eine Nummer, einen Kaffee und eine Art Speisekarte. Auf elegantem, mit dem Logo des Krankenhauses geschmücktem Karton waren alle möglichen Untersuchungen aufgeführt. Daneben standen klein die Preise. Sie saß mit dem Bleistift da und kreuzte an: Toxoplasmose, Hepatitis B, HIV, Cholesterin HDL und LDL, TG/TGC, BUN, OB/ESR, WBC … Die meisten Namen verstand sie nicht. Sie kreuzte sie nur deshalb an, weil sie ihr gefährlich erschienen, wie die Namen prähistorischer Raubtiere – Thrombozyten, Hämatokrit, Monozyten, Urobilinogen, Bilirubin. Eine elegante junge Frau an der Rezeption nahm die Karte entgegen, gab ihr einen Termin, zu dem sie nüchtern erscheinen sollte. Sie reichte ihr diskret einen komischen Behälter für den Urin und wünschte ihr einen angenehmen Tag. Das ist jetzt Mode, dass man sich einen angenehmen Tag wünscht. Auf dem Weg hinaus kaufte Ida in der Klinikapotheke ein kleines Fieberthermometer im Plastiketui und nahm sich vor, jeden Tag systematisch gleich nach dem Aufwachen die Temperatur zu messen. Ein paar Tage schaffte sie es auch. Die gemessenen Werte trug sie auf einer Karte ein, die mit einem Magnet am Kühlschrank befestigt war. 36,7, 36,4, 36,6, 36,6 – alle lagen in einem vollkommen unauffälligen Bereich, doch erst jetzt wurde ihr dank dieser sanften Monotonie klar, dass sie ja keinen Eisprung mehr hatte und daher das Meer, der dunkle innere Ozean, verstummt war und dass eine noch dunklere Nacht auf ihn hinabsank. Ein stilles, unermessliches Gewässer. Wogen, die keine Muschel mehr in Bewegung versetzten.

      Früher hatte sie sich so die Temperatur gemessen, vor über dreißig Jahren, im Studium. Alle Mädchen hatten Thermometer im Zimmer, kleine Kalender voller Zahlen und ein Ausrufezeichen an der Stelle, wo die Körperwärme mit verhältnismäßiger Regelmäßigkeit – einmal im Monat – plötzlich um ein paar Striche in die Höhe ging. Schläfrige Mädchenhände, die nach dem Thermometerglas griffen, der verschlafene Körper, in den die Quecksilbersäule eindrang.

      Es war eine unangenehme Erfahrung, sich selbst mit dem kalten Instrument zu messen, mit einer gläsernen Rute, die auf der entsprechenden Skala den Prozess anzeigte, der sich im abgeschlossenen dunklen Innern des Körpers vollzog. Überhaupt mit einem Instrument den eigenen Körper erkunden zu müssen, weil aus irgendwelchen empörenden Gründen, infolge eines skandalösen Irrtums der Natur, der Mensch nichts über den eigenen Körper weiß. Scheinbar ist er eins mit diesem Körper und ist dieser Körper, zeigt mit dem Finger auf die Brust und nennt ihn »ich« und hat doch keine Ahnung, was sich in ihm tut. Scheinbar fühlt er da etwas, ein Kribbeln, Schwindel und Schmerzen, vor allem Schmerzen, aber er hat kein Wissen, das doch, wenn es logisch zuginge, angeboren sein müsste. Erst musste man für sich selbst zum Objekt werden, das gläserne Röhrchen in sich hineinstecken, um zu erfahren, was sich im eigenen Innern tut.

      Schweigende, klebrige Zellen, eine unförmige Uhr aus Gewebe, die kein Ticken von sich gibt, sondern Materie in Form von Kügelchen, die die Zeit präzise abmessen. Anschwellen von Gewebe und Erschlaffen. Das runde »o« gleitet durch enge Labyrinthe in die Zukunft. Der Körper weiß nichts über sich, er muss an sich einen Test durchführen, um zu erfahren, wie sein Mechanismus funktioniert.

      Ida meint, sie und ihr Körper haben keine gemeinsamen Wurzeln. Sie kommen von verschiedenen Polen. Deshalb müssen sie sich mithilfe von Thermometern, Tomographen und Röntgenstrahlen verständigen.

      Für die Untersuchungen musste sie sich ausziehen. Man teilte ihr ein kleines Zimmerchen zu, ohne Fenster, mit Waschbecken und Kleiderbügeln. Sie zog etwas Weißes an, eine Art Pyjama oder Leinenhemd, und Wegwerfschlappen aus Plastik. Zweimal nahm man ihr Blut ab – aus der Vene und aus dem Finger. Danach ging sie mit einer jungen Frau zum Röntgen, sie redeten nicht miteinander, sie wechselten keinen einzigen Satz, als verstünde es sich von selbst, dass sie jetzt mit wichtigeren Dingen beschäftigt waren und die sozialen Konventionen nicht mehr galten. Die an die Metallscheibe geschmiegten Brüste wurden flach gedrückt, dann ließ die eilige Krankenschwester sie mit der Maschine allein, während einen Sekundenbruchteil lang der Geist Gottes darauf herniederstieg, damit sie sehen konnte, was verborgen, was verdrängt war, was immer im Dunkeln lag. Eine andere Krankenschwester nahm ihren Urinbehälter entgegen, diesen peinlichen Beweis chemischer Prozesse, die ganz von selbst vor sich gehen, seit sie vor über fünfzig Jahren aus unbekannten Gründen angefangen haben. Der Behälter wurde mit ihrem Vor- und Nachnamen versehen und zu anderen ebenso beschrifteten Gefäßen gestellt. Das Datum stand auch darauf. 8. Dezember 2003. Sie war hier und hat eine Spur hinterlassen, aus der man ablesen kann, wer sie ist.

      Anschließend führte man sie in eine kleine Cafeteria in einem unterirdischen Geschoss dieses Privattempels. Sie bekam einen Kaffee und Croissants. Am Nachbartisch saß seitlich zu ihr eine andere Frau. Im Profil war ihr schmaler zusammengekniffener Mund sichtbar, der sich bei jedem Biss wie ein Eidechsenmaul öffnete. Daran erinnert sie sich noch genau. Sie blickten einander mit ausdruckslosem Lächeln an und aßen schweigend weiter.

      Ein paar Tage später ging sie wieder hin. Eine junge Ärztin, ein Mädchen noch, sah einen Stapel Blätter mit Resultaten durch und sagte dasselbe wie der erste Arzt: Ida sei gesund.

      »Vielleicht könnte man beim Hämoglobin Bedenken anmelden, das ist das Einzige, was mir auffällt,« sagte sie. »Aber abgesehen davon ist Ihr Körper völlig in Ordnung, beneidenswert.«

      Bestimmt hatte sie erwartet, dass die Patientin sich freute, dass sie erleichtert aufatmen und freudig hinaus in die regennasse Stadt gehen würde, um Weihnachtseinkäufe zu machen. СКАЧАТЬ