Letzte Geschichten. Ольга Токарчук
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Название: Letzte Geschichten

Автор: Ольга Токарчук

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783311701682

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      Olga erhebt sich gehorsam vom Tisch, zieht eine Fellweste über, setzt eine Filzmütze auf und geht hinaus. Sie müssen mit etwas beschäftigt sein, das keinen Aufschub duldet.

      Worauf sollte sie noch warten? Ida wählt die Nummer der Polizei, 997, die kennt sie aus dem Fernsehen, aus diesen Programmen, in denen Verbrechen unbeholfen nachgestellt werden. Sie hört den langen Ton, wie ein beunruhigendes Signal der Leere. Sie versucht es noch einmal. Der Klang ist lang und traurig, wie das Pfeifen einer fernen Lokomotive. Von hier muss es überallhin weit sein, sogar für das Telefon. Plötzlich hat sie das Gefühl, dass dort am anderen Ende Nikolin den Hörer abhebt und mit seiner schwachen, müden Stimme sagt: »Ja, bitte.«

      So nennt sie ihren Mann, wenn sie an ihn denkt – immer beim Nachnamen Nikolin. Früher klang das vertraut, früher, also damals, als sie jung waren und die gleichen Jeans trugen und die gleiche Frisur hatten. Jetzt klingt »Nikolin« so, wie es sich gehört und wie es der Wahrheit entspricht – wie der Name eines Bekannten. Wenn nötig treffen sie sich in einem Café, wo er ohnehin ganze Vormittage versitzt. Der Eingang des Cafés liegt an einer Hauptverkehrsstraße, aus der Menschenmenge und dem Autolärm tritt man durch die dunkle Tür in eine plötzlich verstummte, beruhigte Welt, es riecht ein wenig feucht, ein Geruch, der die Nähe eines Parks oder Gartens zu verheißen scheint, in Wirklichkeit jedoch von ein paar Kübeln mit Kletterpflanzen herrührt, die zwischen den Tischen stehen und im Sommer ins Freie gestellt werden.

      Nikolin sitzt immer in einer bestimmten Ecke, drinnen, wo es am dunkelsten und am stickigsten ist und nur eine kleine Wandlampe das Lesen ermöglicht.

      Ida erkennt schon von Weitem sein blasses, etwas schlaffes Gesicht und die hellgrauen, sich lichtenden Haare. Irgendwie weiß er immer genau, wann sie, seine Ex-Frau, eintritt, und aus seiner Ecke verfolgt er sie mit Blicken. Er ist überzeugt, dass sie ihn noch nicht sieht oder zumindest noch so weit entfernt ist, dass sie seinen Gesichtsausdruck nicht ausmachen kann. Immer sitzt er demselben Irrtum auf, denn in Wahrheit hat Ida seine verdrossene Miene längst wahrgenommen, bevor er sein Gesicht strafft und den Mund zu einem Lächeln verzieht, das nicht zu herzlich, nicht übertrieben ist, nur freundschaftlich, normal. Sie sieht sein Gesicht, bevor es dazu bereit ist, und sie weiß, was es aussagt: Ablehnung, ein Hauch von Wut, Ekel – nicht unbedingt ihr gegenüber, aber allem gegenüber, was nicht er selbst ist.

      Nikolin trägt viele Kleidungsstücke, die nicht zueinander passen oder die er aus Trotz so unpassend ausgewählt hat: ein Hemd, eine Wollweste, ein dreieckiges Halstuch, das eine Art Schal darstellen soll, dazu ein Jackett mit Flicken auf den Ellbogen, ausgebeulte Cordhosen und im Knopfloch der Jacke noch ein Ziertuch. Von allem zu viel, die absonderliche Eleganz eines Menschen, der sich mechanisch ankleidet. Nikolin legt sein Buch beiseite und sieht sie mit einem inzwischen freundschaftlichen Lächeln an, er greift nach seinem Bier, an dem er seit einer Stunde nippt.

      Meistens ist er derjenige, der anruft, in der Regel geht es um einen kleinen Gefallen: eine Arztempfehlung, ein kleines Darlehen, ein Anlass – ein Theaterstück, Vortrag, Abendessen –, zu dem er partout nicht allein gehen möchte. Sie kommt widerwillig, müde, zwischen Reisen, oft mit gefülltem Einkaufsnetz. Im Grunde geht es ihm immer um dasselbe: Ich bin hilflos, sagten sein kariertes Jackett, sein kahler werdender Kopf, das Tüchlein im Knopfloch, die müde Hautfalte neben dem Mund, die aschfarbenen Augenlider, die kleinen, schmalen Hände mit dem Kugelschreiberabdruck auf einem Finger. Ich bin verlassen und hilflos, ich weiß nicht, wie ich mit alldem fertigwerden soll, der Nachbar hat mir das Badezimmer überschwemmt, ich habe meinen Versicherungsvertrag verloren, ich habe erhöhten Blutzucker, ich kann nachts nicht schlafen, ich bin alt, ich habe mein Leben vergeudet, nimm mich mit nach Hause, kümmer dich um mich, ich bin krank, ich hab keine Kraft.

      Doch sein Mund berichtet nur konkrete Fakten: Meine Heißwasserleitung ist im Eimer, kennst du keinen Handwerker, könntest du ihn anrufen, dass er zu mir kommt, ich bin jetzt die ganze Zeit zu Hause. »Ich kann dir die Nummer geben«, sagt Ida. »Natürlich, ich werde ihn selbst anrufen«, beschwichtigt er und setzt hinzu: »Kann ich mal zum Kaffee zu dir kommen?« Ida zuckt mit den Schultern. »Ich fahre bald wieder weg«, sagt sie. »Und wann kommst du zurück?«, fragt er nach.

      Er kommt mit einer Zeitung, setzt sich auf seinen alten Platz an den Tisch in der Küche, sie schneidet etwas, kocht etwas. Er sitzt in ihrer Küche über der auf dem Tisch ausgebreiteten Wochenzeitung, die großen Zeitungsseiten segeln zu Boden. Die Küche ist klein. Nikolin und seine Zeitung nehmen den ganzen Raum ein, atmen die ganze Luft, nehmen das Licht weg. Die beiden unterhalten sich leise, ohne Energie. Das haben sie unfreiwillig gelernt, sobald sie einander sehen, werden sie müde. Ida gibt ihm etwas zu essen, setzt ihm den Teller mit Suppe vor die Nase, auf die Zeitung. Nikolin lächelt dankbar und isst schweigend. Er ist wie ein Küken, das zu unglaublichen Dimensionen angewachsen ist, doch die Fähigkeit zur Nestflucht verloren hat. Und je größer die Dankbarkeit in seinem Lächeln ist und je mehr ihm die Suppe schmeckt, desto größer ist der Zorn, der Ida ergreift. Das ist derselbe Zorn, den man verspürt, wenn man festgehalten wird und sich nicht befreien kann. Es ist eine Raserei. Ida versucht sich zu beherrschen, sie wartet, bis der Mann fertig ist, nimmt die leere Schale fort. Sie stellt sie in den Ausguss und sagt, er solle jetzt lieber gehen. Ohne ein Wort, ohne das geringste Seufzen nimmt er die Jacke vom Haken und geht. Nur ein paar Worte wie »Auf Wiedersehen« oder »Mach’s gut« werden gewechselt. Aber murmelnd, unklar.

      Als Maja zur Uni ging, teilten sie die Wohnung in zwei kleinere. Das erste Jahr über kam er, um seine Bücher zu holen, die bei ihr in Kartons standen, jedes Mal nahm er nur drei oder vier, damit er immer einen Vorwand haben würde, wiederzukommen. Er behauptete, in seiner Wohnung fehle es noch an Regalen. Er warf einen Blick in den Kühlschrank, sie aßen etwas zusammen, dann ging er. Er dehnte den Abschied in die Länge, quengelte.

      Seit Urzeiten befasst sich Nikolin mit Kitsch, vor zwanzig Jahren sollte er darüber eine Doktorarbeit schreiben. Jetzt ist er Geschichtslehrer, aber das stört ihn nicht, er verfolgt den Kitsch in allem, was seines Weges kommt. Er analysiert Kitsch, untersucht ihn, hasst ihn und betet ihn zugleich an. Er kann nie genug von diesem Spiel bekommen – alles betrachtet und untersucht er als potenziellen Kitschträger. Er tut es still, hartnäckig, systematisch notiert er seine Beobachtungen mit seinen kleinen fraulichen Händen in ein Notizbuch und wirft sie seinen Gymnasiasten als Aphorismen vor.

      Kitsch ist die leere, unreflektierende Nachäffung von etwas wirklich Erlebtem, einer einmaligen, originalen, unwiederholbaren Entdeckung. Kitsch ist Verdoppelung, Vervielfältigung, Mimikry, die von einer bereits geschaffenen Form zu profitieren sucht. Kitsch ist die Imitation von Rührung, ein Wühlen im grundlegenden, ursprünglichen Affekt, dem dann ein zu enger Inhalt übergestülpt wird. Jede Sache, die vorgibt, etwas anderes zu sein, um bestimmte Gefühle hervorzurufen, ist Kitsch.

      Jede Imitation ist moralisch schlecht – deshalb ist Kitsch gefährlich. Nichts ist so gefährlich für den Menschen wie der Kitsch, nicht einmal der Tod.

      Ida vermutet, dass dieses Thema einen tieferen, symbolischen Grund hat und Nikolin, hoffnungslos darin versunken, ein Mysterienspiel vollführt, er nähert sich diesem tiefen, dunklen Geheimnis, in dem Kitsch bloß ein Vorwand, ein Schlüssel ist.

      Menschen kommen nur zusammen, um zu sehen, wie sie sich voneinander unterscheiden. Je mehr sie sich unterscheiden, desto länger bleiben sie zusammen. Als wollte das Leben ihnen alles zeigen, was sie nicht sind. Jeder Tag mit Nikolin beweist, dass diese Unterschiede unaufhebbar sind. Sie leben achtzehn Jahre miteinander.

      Sie sieht zu, wie er seine kleinen Notizen auf Zetteln macht, höchstens zwei Worte, wie Chiffren. Emotionen sind deshalb so gefährlich, weil sie wie besessen nach einer Ausdrucksform suchen, sie sind ungeduldig, können es nicht abwarten, etwas Neues, Eigenes zu schaffen, und verfallen so aus Hast in abgenutzte Formen. Je stärker die Emotion, desto größer die Versuchung, sich einer abgenutzten Form zu bedienen – je СКАЧАТЬ