Название: Letzte Geschichten
Автор: Ольга Токарчук
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311701682
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»Letzte Tür links.«
Dann verschwindet sie mit dem Hund in der Küche.
Das Badezimmer ist kalt und karg. Auf dem Boden steht ein elektrischer Heißluftofen. Der Ventilator setzt sich unwillig, schwerfällig und knirschend in Gang.
In dem kleinen Spiegel über dem Wasserhahn mustert Ida ihr Gesicht. Keine Verletzungen, aber sie ist verändert, vielleicht liegt das an dem trüben Licht, das hier überall herrscht. Ihr Gesicht kommt ihr nicht fremd vor, aber anders, als sei es keiner längeren Betrachtung wert, verschwommen, ein Objekt, das man tagtäglich sieht, die gelangweilten Augen gleiten langsam und systematisch darüber hinweg und nehmen es nicht mehr wahr. Sie berührt die Oberfläche des Spiegels, ihr Gesicht versteckt sich hinter ihren Fingern, dann ist es wieder da, immer noch merkmalslos, unscharf. Ida tastet sich systematisch ab, Arme und Bauch, sie prüft die Härte des Brustkorbs und die Weichheit des Halses, ob nichts gebrochen ist, nichts auf Druck wehtut, nichts zu Besorgnis Anlass gibt. Beine, Füße, Knie, Schenkel, Gesäßbacken, Becken. Stille.
Sie sieht sich selbst. Haare bis auf die Schultern, glatt, das Grau verborgen unter einer Haarfarbe der Serie »Natürliche Tönung«, Wella oder Schwarzkopf, Nummer null fünf, wahrscheinlich hellbraun – an diese Farbe hat sich ihre Gesichtshaut über die Jahre hinweg gewöhnt. Der Hals – lauter Ringe, als wäre er mit etlichen dünnen Fäden umwickelt. Dieser Prozess ließ sich nicht aufhalten, weder Cremes noch Massagen haben geholfen. Die Oberarme wurden kleiner, zerbrechlich, das Gewebe, das sie bedeckte, verwelkte, jetzt fängt es an, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, nach unten zu wandern, an geschütztere Stellen. Die Brüste – sie schenkt ihnen selten noch Aufmerksamkeit – sind tränenförmig geworden, Tropfen aus weichem, feinem Wildleder. Und jetzt fällt es ihr auf: Den ganzen Körper zieht es zur Erde, als wären alle seine Teile schon erschöpft und müde und gäben still das tägliche Gerangel mit der Erdanziehungskraft auf. Ja, sagt der Körper, ich ergebe mich, ich komme dir entgegen, ich kämpfe nicht mehr gegen dich, ich welke, beuge mich, krümme mich, falle auf die Knie und drücke mich schließlich mit Gesicht, Bauch, Schenkeln an die Erde, breite die Arme aus – saug mich in dich auf, lass mich in dich versickern, mich auflösen, lass mich zu Staubteilchen werden, zu Boden sinken und dort bleiben.
Ida berührt ihre Brust an der Stelle, wo das Herz unter den Rippen ist. Es ist ein krankes Herz, wie sie meint, und an diesem Herzen wird Ida sterben. Es ist gut, wenn man sein Leben lang weiß, woran man schließlich sterben wird. Von Zeit zu Zeit und ohne ersichtlichen Grund kommt es zu Vorübungen.
Es beginnt mit einem Beben im Brustkorb. Das Herz flattert darin wie eine Biene in einer Schachtel, die blindlings an die Wände schlägt, surrt und flirrt, bis sie vor Erschöpfung umsinkt. Das dauert zehn, zwölf Sekunden, nicht länger, anschließend setzt das Herz minutenweise aus. Ida liegt wach im Dunkeln, denn meistens passiert es in der Nacht. Ein Probetod – plötzliche, weiße Stille. Die Angst entsteht nur bei diesem Surren des Herzens und ist eine Folge der Bewegung, des Flatterns, des plötzlich abhandengekommenen Rhythmus. Emotionen sind immer Folge eines körperlichen Zustandes, nie umgekehrt, stellt Ida fest. Wenn das Herz stillsteht, verschwindet die Angst. Dann muss sie die Lampe anmachen, denn sie möchte gern wissen, ob es möglich ist, dass das Herz diesmal wirklich stehen geblieben ist, dass es keine Einbildung ist, dass es keine Hysterie oder Hypochondrie ist. Und ob das heißt, dass sie tot ist. In der kleinen Rinne längs der Adern findet die Fingerkuppe die wohlbekannte Stelle. Nichts pulsiert dort, nichts bewegt die glatte, körperwarme Haut. Das Herz steht tatsächlich still.
»Sie wissen doch, dass das Herz unmöglich stehen bleiben kann. Das muss Ihnen nur so vorgekommen sein«, sagt die sehr junge Krankenschwester, als sie die Angaben auf der Karte notiert. In ihrem Blick liegt jedoch ein unfreiwilliger Respekt, wie man ihn den Dingen zollt, die man nicht ganz begreift.
Jetzt sitzt Ida im Wartezimmer und umfasst ihr Handgelenk mit den Fingern der linken Hand. Hier besteht eine ideale Abstimmung: Das Handgelenk passt genau in den Ring, den Daumen und kleiner Finger bilden. Sie berührt den halbrund vorstehenden Knochen, eigentlich ein Knöchelchen, das sich wie eine Kugel unter der Haut wölbt. »Wie heißt dieser Knochen, und was hat er mit mir gemein?«, denkt sie. Sie ist verärgert, weil der Arzt sich verspätet. Auf welche Weise ist dieser Knochen, dessen Namen Ida nicht kennt und dessen Wesen sie nicht versteht, sie selbst? Wäre sie ohne diesen Knochen immer noch sie selbst? Ohne welches Organ wäre sie nicht mehr sie selbst? Das Herz? Das Gehirn? Sie muss den Arzt fragen.
Sie stellt sich das Innere ihres Körpers vor, als wäre er der Held eines Unterrichtsfilms, wie er den Kindern in der Biologiestunde gezeigt wird, Deine Haut oder So arbeitet das Gehirn des Menschen, alles ist in riesiger Vergrößerung dargestellt, zusammengesetzt aus gewaltigen Zellen, pulsierenden Einzelheiten von Teilen eines größeren Ganzen, das man sich nicht einmal vorstellen kann. Ihr Körper besteht aus geheimnisvollen Gräben und Auswölbungen, übereinanderliegenden Schichten, fleischigen Rohren, schimmernden Oberflächen, seerosenartigen Gebilden. Er ist genauso fremd wie der Meeresgrund, wie ein von ungeheuerartigen und furchterregenden Wesen bevölkertes Korallenriff.
Da ist die Gebärmutter, ein dunkler Tunnel, und an seinem Ende sieht man in blutigen Fleischfalten einen kleinen gelblichen Tropfen, der perlengleich hinuntergleitet und durch den Tunnel fällt, kurz darauf beginnen die fleischigen Wände sich vor Kummer zu schuppen, blutige Plättchen lösen sich und verwandeln sich in unzählige klebrige Blutstropfen. Das Herz – ein monströses Gebilde aus fleischigen Bändern, elastisch und gummiartig. Der Rhythmus, in dem es sich bewegt, ist der Rhythmus der Kopulation. Jeder Takt gebiert einen Augenblick, der sofort stirbt. Ein kleines farbloses Bläschen, das platzt, bevor man es betrachten kann.
Man sollte einfach aus den sterilen Räumen hinaus auf die Straße gehen und rufen: Traut keinen Ärzten! Glaubt nicht, dass auch nur einer von ihnen irgendwann etwas Wesentliches sagen wird. Seht euch vor, ihr Wissen ist ein Scheinwissen, und in Wirklichkeit erinnert es an ein einfältiges Spiel, es geht nur darum, im geeigneten Moment den Blick von den Papieren oder dem an den fremden Körper gepressten Stethoskop zu heben und in Sekundenbruchteilen die Kontrolle zu übernehmen: Ich weiß über deinen Körper etwas, was du nicht weißt; obwohl ich nicht du bin, weiß ich etwas, dessen du dir nicht bewusst bist. Was uns unterscheidet, ist Wissen. Ich weiß, denn ich bin nicht du. Du kannst nichts über dich wissen, denn man kann nur etwas erkennen, was man nicht selbst ist. So sieht das aus. Ja, du hast einen Körper, aber du weißt nichts darüber. Ich weiß alles darüber, denn er ist genauso wie andere Körper, die ich schon lange erkannt habe, indem ich sie von oben bis unten abgetastet habe, in ihr Inneres geschaut habe, sie in meiner Vorstellung in kleine Stücke geschnitten habe, damit sich nichts vor mir verbergen kann. Mich überrascht nichts. Im Wesentlichen sind Körper einfache hydraulische Apparate. Erkennen und Handeln – ein paar ausgestellte Rezepte und Überweisungen zu weiteren Untersuchungen. Weiterreichen des Körpers an andere, die auch so tun, als wüssten sie besser Bescheid.
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