Название: Wunsch Traum Fluch
Автор: Frances Hardinge
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9783772540332
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Er stieß sich von der Mauer ab und wirbelte herum. Er konnte immer noch das Haus sehen und darin die kleinen, bunten Figuren, die seine Eltern waren, aber jetzt war es ein zerbrechliches gläsernes Spielzeug inmitten eines überwucherten, feuchtkalten Waldes.
Er fühlte, wie sich eine herumwirbelnde Zeitung um seinen Oberschenkel wickelte, und der Schreck der Berührung weckte ihn auf.
Ryan hatte sich einen Trick überlegt, wie er sich vergewissern konnte, dass er nach einem Albtraum wirklich erwacht war. Er blinzelte dreimal mit den Augenlidern, und zwar so fest, dass er nicht wieder einschlafen würde, ohne es zu merken. Dann suchte sein Blick den pfeildünnen Spalt aus dunklem Silber zwischen den Vorhängen und die Leuchtziffern auf seinem Wecker. Aber diesmal reichte das nicht aus.
Er stand auf und ging ins Badezimmer, wo das Licht seine Welt mit Farben erfüllte und die Seife cremig im Bauch ihrer Schale neben der Badewanne schimmerte. Es reichte immer noch nicht. Die Knöchel auf seiner unverletzten Hand kribbelten, und als er den Waschlappen abwickelte, sah er, dass sich neue, winzige Beulen durch seine Haut nach oben schoben.
Ryan saß die ganze Nacht auf der Fensterbank und las, bis allmählich immer mehr Tageslicht durch die Vorhänge fiel. Am Morgen war ihm schwindelig vor Müdigkeit.
Als er zum Frühstück nach unten kam, warf seine Mutter nur einen einzigen Blick auf ihn und schickte ihn wieder ins Bett, weil es ihm ganz offensichtlich nicht gut ging. Sie brachte ihm ein weich gekochtes Ei mit Toast und eine Grapefruit. Sie hatte die Grapefruit mit einem Messer in einem Zickzackmuster in zwei Hälften geschnitten und jeweils eine kandierte Kirsche auf die Hälften gelegt. Ryan fühlte sich schuldig, aber nicht schuldig genug, um die Grapefruit zu verschmähen. Er wusste, dass sich seine Mutter Sorgen um ihn machte. Trotzdem musste sie das Haus verlassen. Die Grapefruit sollte ihn dafür entschädigen.
Es kam ihm komisch vor, den ganzen Tag im Bett zu hocken. Sein Magen wirbelte im Kreis wie ein Wäschetrockner. Er glaubte beinahe selbst, dass er wirklich krank sein könnte.
Sein Vater blickte nicht von seinem Kreuzworträtsel auf, als er – vollständig angezogen – ins Wohnzimmer kam.
«Ich fühle mich schon viel besser», erklärte Ryan ruhig. «Ich würde gerne in den Garten gehen.»
Einen Moment lang sah ihn sein Vater verständnislos an. «Gut.» Es gab eine Pause, während sein Gehirn in die Realität zurücksprang und er begriff, was Ryan gesagt hatte. «Gut», wiederholte er, und diesmal klang es ehrlich gemeint.
Als Ryan seine Hand auf die Metallklinke der Hintertür legte, wurde er vom Kälteschauder seines Traums überfallen. Beinahe hatte er Angst, dass er gleich auf die windgepeitschte Asphaltfläche blicken würde und auf eine gelblich verblichene Landschaft.
Die Tür öffnete sich und da war der Garten, sein Garten. Er blickte sich um. Sein Zuhause war nicht zu Glas verblasst. Aber irgendwie ließ ihn das Gefühl nicht los, dass es jedes Mal dann geschehen könnte, wenn er dem Haus den Rücken zudrehte. Und dass jenseits des Gartenzauns vielleicht doch der asphaltierte Platz lag oder die mit Müll behangenen Bäume des Wäldchens in Magwhite.
Er durchquerte den Garten, ging durch das Tor hinaus und den vertrauten kleinen Weg entlang, der an den Nachbargärten vorbeiführte. Doch vielleicht lag dort, wo der Pfad endete, auch das Ende seiner Welt und der Anfang jener merkwürdigen Fremdheit …
Nein, da war die Straße, die auf eine durchaus vernünftige Art und Weise unter der Brücke hindurchführte. Er wollte gar nicht weit gehen, nur hinauf auf die Brücke, damit er die Gegend überblicken und sehen konnte, dass es nirgends eine Grenze gab, wo seine Welt plötzlich endete. Auf der Brücke stand ein Mann und wusch mit einem Hochdruckreiniger Graffiti-Malereien von dem Beton. Ryan wollte warten, bis er damit fertig war, ehe er auf die Brücke ging. Dann konnte er beruhigt heimkehren.
Unter der Brücke verlief die Straße zwischen zwei Betonmauern. An eine der Mauern hatte jemand das Plakat einer jungen Frau geklebt, die an einem Tisch saß. Sie hatte langes, glattes Haar, das glänzte, wie Haar nur auf Werbeplakaten glänzen kann, als ob es aus poliertem Holz bestünde. Ihr Kleid war grün; sie lächelte und hielt die Augen gesenkt, als ob jemand gerade etwas gesagt hatte, was sie verlegen und gleichzeitig glücklich machte. Auf der anderen Seite des Tisches war der Rand eines Männergesichts zu sehen und darunter eine Schulter. An der Art, wie sich die Wange wölbte, konnte man erkennen, dass auch er lächelte.
Aus dem Hochdruckreiniger auf der Brücke floss Wasser durch die Ritzen im Beton nach unten und durchnässte das Plakat. Ryan wollte sich gerade abwenden, als die Frau in dem grünen Kleid sich plötzlich bewegte. Sie ließ das Kinn auf die Brust sacken und wandte den Kopf weg von dem lächelnden Papiermann, hin zu Ryan. Dann öffnete sie die Augen.
Ihre Augen waren Springbrunnen. Ryan konnte nicht erkennen, ob sie überhaupt Augäpfel hatte, so gewaltig strömte das Wasser zwischen ihren Lidern hervor. Ihre Lippen zitterten, teilten sich, und dann rauschte auch aus ihrem Mund das Wasser, wie bei einem Wasserspeier auf einem Kirchturm.
Ryan gab einen erstickten Laut von sich. Er wusste nicht, was dieser Laut bedeuten sollte. Er zwang sich aus eigenem Antrieb aus ihm heraus, als ob seine Lungen voll Wasser wären.
Von dem Plakat kam ein schreckliches Gurgeln, und Ryan erkannte entsetzt, dass es aus der Kehle der Frau drang. Sie versuchte, durch den Wasserfall hindurch zu sprechen.
«Bschaaaiiiib …»
«Nein …» Mehr brachte Ryan nicht heraus. Er fühlte sich, als ob das Innenleben seiner Brust sich in Luft aufgelöst hätte. Nein, bitte lass das nicht wahr sein …
«Bschlaaaiiiib …»
Erst als sie die Hand ausstreckte, die Finger gespreizt, begriff Ryan, was sie sagen wollte. Bleib. Ihm wurde bewusst, dass er seine Hände in den Hosentaschen verkrampft hatte, als ob er seine Beine festhalten wollte. Aus dem Augenwinkel sah er die sonnenbeschienene Straße jenseits des Brückenschattens, aber sie kam ihm so unerreichbar vor wie die Landschaft auf einer Kinoleinwand.
«Haaabscht mirsch fleschenommschen …»
«Ich habe nichts …» Ryan schüttelte panisch den Kopf.
«Haabscht mirsch weschenommen …»
Habt mir weggenommen. War es das?
«Flüüüschischesche.»
«Ich weiß nicht … Ich kann nicht versteh...» Ryan sprach in abgehackten, heiseren Quietschern. Er bedeckte die Augen mit seinen Händen und ballte sie zu Fäusten. Er verspürte einen Stich auf seinem Handrücken, als der Verband über die gespannte Haut schabte. Irgendetwas zwischen den Knöcheln seiner beiden Hände zitterte und lockerte sich, und dann, ganz plötzlich, konnte Ryan die Frau auf dem Plakat deutlicher sehen als zuvor – obwohl er die Augen geschlossen hielt.
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