Название: Die Frage bleibt
Автор: Freda Meissner-Blau
Издательство: Bookwire
Жанр: Афоризмы и цитаты
isbn: 9783902998088
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Mit meinen Geschwistern, im Jänner 1935
Und dann war mein Vater so unglaublich unberechenbar. Man wusste nie, wie man mit ihm dran ist, er war nicht kalkulierbar. An dem einen Tag – das war selten genug, dass er da war – konnte er mit uns herumspielen und blödeln. Wir waren ja vier Geschwister: Peter und Marianne waren die älteren, Doris und ich die beiden jüngeren. Und wenn er gut aufgelegt war, war für ihn die Doris, die so possierlich, komisch, lustig und auch dick und rund war, der Herr Bär. Und ich war das Rhesusäffchen: lange Beine, lange Arme und frech. Er hat mich manchmal herumgeschleudert und hat mir angeblich, als ich noch sehr klein war, die Schultern ausgekugelt. Ich hab mir das alles genussvoll gefallen lassen, wenn er mich nur beachtet hat. Aber am nächsten Tag bin ich dann wieder auf Zehenspitzen durch das sogenannte Herrenzimmer gegangen, wenn er am Schreibtisch saß, und habe ein Donnerwetter bekommen, einfach für meine Präsenz.
Wissen Sie, ich bin in meiner Kindheit nie draufgekommen, wie man so etwas wie einen eigenen Willen durchsetzen kann. Als wir in Linz wohnten, war zum Beispiel völlig klar: Sonntags gehen wir in den Kürnberger Wald, der im Westen von Linz liegt und der seit Urzeiten besiedelt gewesen ist. Mein Vater hatte damals einen Kelten-Tick. So mussten wir mit Schaufeln diese verdammten Scherben von den Kelten ausgraben. Jeden Sonntag! Ich habe das gehasst. Wir gingen Stunden um Stunden, und dann gab’s zu Mittag als Picknick zerquetschte Tomaten und harte Eier aus einer Aluminiumbüchse. Der einzige Lichtblick war, dass wir auf dem Heimweg ein Orangen- oder Waldmeisterkracherl gekriegt haben. Ich wäre so gern zu Hause geblieben, hätte lieber gelesen, aber es wär mir nicht eingefallen, das auch zu sagen. Es wurde bestimmt, wir gehen in den Kürnberger Wald – aus. Einen eigenen Willen wahrzunehmen und zu formen – das habe ich erst sehr viel später gelernt.
Damals in Linz passierte noch etwas mir Unbegreifliches: Es war ja die Zeit des Austrofaschismus, und so mussten wir sonntags von der Schule aus immer in die Kirche gehen. Meine Eltern fanden das völlig unnötig und haben mir – das war ein langer Konflikt in mir, aber den habe ich auch nicht ausdrücken können – eine Entschuldigung geschrieben: »Die Freda hatte Fieber und Halsschmerzen und konnte deshalb nicht in die Kirche gehen.« Ich aber habe gerätselt. Es gab ja das Credo in der Familie: Man lügt nicht, man hat das nicht nötig. Ich habe mich gefragt: Das stimmt doch nicht, ich hatte doch kein Halsweh, warum lügen sie? Da es mir aber immer noch lieber war, in den Kürnberger Wald zu gehen als in die Kirche, habe ich nichts gesagt. Aber dass ich einmal gesagt hätte, ich möchte dieses oder jenes, das ist mir nicht eingefallen.
Im Nachhinein erinnert mich die Atmosphäre in unserem Elternhaus ein wenig an diesen großartigen Film von Michael Haneke: Das weiße Band – auch wenn es bei uns bei Weitem nicht so schlimm war. Wir sind nie geschlagen worden. Ja, wenn wir mit dreckigen Fingernägeln zu Tisch kamen, da haben wir schon mal eins auf die Hand bekommen, aber das war das Einzige, was wir physisch einstecken mussten.
Einmal jedoch musste ich scheitelknien, eine dieser absurden Strafen, die damals üblich waren. Aber ich muss vorausschicken: Mein Vater hat sehr sozial gedacht – im gesellschaftlichen Sinne. Das war eher selten in dieser Zeit, in der man entweder oben oder unten war, dazwischen gab’s nicht viel. Wir hatten zu Hause natürlich auch ein Stubenmädchen, die Resi, die ich sehr mochte. Wenn ich irgendwelche Stickereien für die Schule nicht zusammenbrachte, machte sie sie mir. Sie servierte immer die Mahlzeiten. Einmal legte sie mir etwas auf den Teller, das ich nicht mochte, und da sagte ich: »Du dumme Kuh!« Eigentlich ganz freundschaftlich gemeint, so eben auf unserer Ebene. Aber der Papa wurde zornig. Dass ich es wage, zum Dienstmädchen »dumme Kuh« zu sagen! Das war streng verpönt. Er sagte auch immer: »Dienstboten sind nicht für euch da. Eure Schuhe putzt ihr euch selbst!« Und am Sonntagnachmittag, wenn wir mal nicht im Kürnberger Wald waren, mussten wir Kinder abwaschen und abtrocknen, damit die Mädchen früher freihatten. Damals habe ich gefühlt, das ist schon irgendwie fair, was er von uns verlangt, auch wenn ich nicht gern die Schuhe geputzt habe. Und jetzt war er so böse auf mich und sagte: »Du entschuldigst dich sofort bei der Resi, hier und jetzt!« Die Resi hat noch versucht, zu gehen, ihr war das alles unangenehm, er aber sagt: »Sie bleiben hier, der Fratz hat sich bei Ihnen zu entschuldigen!« Aber ich war trotzig: »Nein!« Ich hatte es ja auch nicht böse gemeint, aber auch das wollte ich nicht sagen oder hab’s nicht gekonnt. Da befiehlt er: »Scheitlknien, bis du dich entschuldigst!« In der Ecke lagen Holzscheitln, und auf denen bin ich gekniet. Die haben ihr Dessert gegessen, das Essen war fertig, es wurde abgeräumt, ich knie und knie und bin nicht bereit, mich zu entschuldigen. Ich glaub, es war schon vier Uhr, da kam die Resi, die dann doch wieder in die Küche gegangen war, zurück und sah mich immer noch knien. Sie fing zu weinen an. Jetzt konnte ich sagen: »Resi, verzeih!« Aus war’s, da durfte ich aufstehen. Meine Knie waren wie Wellblech.
Sie haben Ihre Geschwister ja schon kurz erwähnt. Wie war denn die Beziehung Ihrer Geschwister zum Vater?
Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, die Doris hatte so gut wie gar keine Beziehung zu ihm, sie hatte auch keine Angst vor ihm – im Unterschied zu mir. Sie war für ihn das drollige Bärlein; sie hat sich wohl weniger Fragen gestellt. Der Peter, mein älterer Bruder, hat später nach dem Tod unseres Vaters eine Art Heldenverehrung betrieben, ihm hatte wohl auch der Vater gefehlt – er selbst spielte dann so quasi den Vater, der alles gewusst habe und der so wunderbar und so unglaublich gewesen sei. Das war aber unser Vater nicht, er war ein großes Mängelwesen. Und die Marianne, meine große Schwester, war im heftigen Zwist mit ihm.
Ich werde eine Szene meiner Kindheit nie vergessen – da ging es auch um physische Gewalt. Diese Szene ist mir so haften geblieben, weil sie mich tief erschüttert hat: Wir sitzen alle beim Mittagstisch. Die Mami sitzt am oberen Platz als Hausfrau, der Papa sitzt rechts von ihr, ich sitze links von ihr, neben mir die Marianne, neben Papa der Peter und dann die Doris. Es gibt Hascheeknödel, in denen Selchfleisch drin ist, mit Salat, das mochten wir sehr. Plötzlich schiebt die Marianne ihren Teller ein bisschen weg und sagt: »Da ist kein Knoblauch drinnen.« Vorwurfsvoll. Gehört rein, sie hatte recht, in der Zwischenzeit habe ich das gelernt. Worauf die Mami still sagt: »Mir kommt kein Knoblauch in die Küche.« Und die Marianne trumpft auf und sagt: »Es gehört aber Knoblauch in die Hascheeknödel!« Worauf der Vater aufsteht und – sie war damals sechzehn oder siebzehn – ihr so eine knallt, aber so eine Watschen, ich habe die rote Hand auf ihrem Gesicht gesehen. Die Marianne hat durchgedreht. Sie schmiss sich auf den Boden und schrie. Sie hat sich nicht nur erschreckt, sondern empört, sich so gedemütigt gefühlt. Das muss sie tief verletzt haben, Marianne war ja damals schon eine junge Frau. Sie kam danach in ein Pensionat nach Wien – abgeschoben! Das war das Verhältnis von den beiden.
Insofern unterschied sich ja Ihr Elternhaus vom Milieu Ihrer Reichenberger Großeltern, in dem gar keine Emotionen oder Affekte gezeigt wurden.
Das mag sein, ja, in meiner Familie war das nicht mehr so wie bei der Großelternfamilie. Auch bei uns wurde zwar nicht viel über Gefühle gesprochen, aber sie wurden manchmal ungeniert demonstriert. Diese völlig distanzierte Haltung ist in meiner Familie verloren gegangen; die Emotionen wurden losgelassen, manchmal in erschreckender Weise – wie bei der Hascheeknödel-Geschichte. Im Nachhinein habe ich den Eindruck, dass es ein Paket von Gefühlen gegeben haben muss, das zunächst unterdrückt gewesen und dann auf beiden Seiten explodiert ist.
Aber Sie selbst waren ja, so wie Sie sich bislang beschrieben haben, emotional auch eher zurückhaltend?
Ja, den Eltern gegenüber. Aber unter uns Geschwistern haben wir uns fest gestritten, nur war ich da als Jüngste jedes СКАЧАТЬ