Die Frage bleibt. Freda Meissner-Blau
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Название: Die Frage bleibt

Автор: Freda Meissner-Blau

Издательство: Bookwire

Жанр: Афоризмы и цитаты

Серия:

isbn: 9783902998088

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       Die »Alm«, unser Sommerhaus

      Für uns Kinder war die sogenannte Alm da. Meine Großeltern hatten für ihre fünf Söhne und Töchter eine wunderhübsche Holzvilla am Waldrand auf einem Hügel bei Reichenberg gebaut, mit einer Aussicht, die ich heute noch vor meinem inneren Auge habe, mit viel Land drum herum. Es gab eine große Kiesterrasse vorm Haus, die mit Rhododendron zugewachsen war. Wie diese Hecken im Frühjahr blühten, habe ich nie vergessen. Es gab eine abschüssige Wiese, mit zwei Felsen am unteren Ende, auf die wir raufklettern konnten; sie hießen die Mimi-Felsen. Die Mimi war meine Mutter. Sie liebte es als junges Mädchen auf die Felsen zu klettern. Wir haben schon bald in Linz und dann in Wien gewohnt, aber wir kehrten in den Ferien immer wieder auf die Alm nach Reichenberg zurück, auch meine Cousins und Cousinen. Hier auf der Alm, auf der Wiese konnten wir herumtoben und laut sein.

      Aber sonst musste immer alles so liebenswürdig sein. Es durfte nie Streit geben. Gefühle wurden nicht gezeigt, über Gefühle wurde nicht gesprochen, schon gar nicht über negative Gefühle. Einfach undenkbar! Und als Kind hattest du zu bitten. Wir durften nicht einfach etwas zu essen nehmen – so wie später meine Kinder. Die sind reingekommen und haben sich eine Banane genommen, ganz selbstverständlich. Nein, damals musste man um alles bitten. Die Küche war im Untergeschoß, gegessen wurde im Obergeschoß. Eines Nachmittags, es muss so fünf Uhr gewesen sein, hatte ich Hunger. Ich gehe runter in die Küche und will die Köchin bitten, mir etwas zu geben. Es ist aber niemand da, und da schneide ich mir selbst ein Stück Brot ab. Ich buttere es und begehe das unerhörte Verbrechen, so einen Dreieckskäse, einen Rigi, wie der damals hieß und den ich sehr liebte, in Scheiben zu schneiden. Und in dem Moment kommt die Tante Hannah, die sogenannte Froschi, und fragt: »Was machst du da?« Wir hatten in der Küche nichts zu suchen. »Ich hab so einen Hunger!« – »Wen hast denn gefragt, ob du das darfst?« Sag ich: »Es war niemand da.« – »Ja, das muss ich der Großmama sagen.« Ich flehe sie an: »Bitte, Tante Hannah, sag’s ihr nicht!« Denn ich wusste, wenn die Großmama davon erfährt, wird es für mich furchtbar unangenehm. Ich bitte sie also, und sie verspricht mir, es nicht der Großmama zu sagen. Um solche Sachen ging es damals, stellen Sie sich das vor, auch das macht ja eine Welt aus: Wohlhabende Leute, mit einem Schwanz von Bediensteten, aber die Kinder dürfen sich nicht selbst ein Stück Brot nehmen. Und die Tante hat’s der Großmama gesagt, und ich habe einen Riesentanz von ihr gekriegt. Seither mochte ich die Froschi nicht mehr. Der erste Verrat!

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       Die fünf Söhne und Töchter meiner Großeltern, v. l. n. r.: Hannah (»Froschi«), Wilhelm, Änni, Harry, »Mimikatz« (ca. 20 Jahre alt)

      Jahrzehnte später, es ist noch gar nicht so lange her, war ich zum Evangelischen Kirchentag in München eingeladen, um über die Donau zu sprechen. Nachher gehe ich aus dem Zelt raus, es war ein strahlender Tag, gehe in der Hitze herum, bin ein bissel abgeschlafft, sehe eine Bank, wo einer sitzt. Ich denke mir noch: Will ich mich dazusetzen? Ach Gott, ich setz mich einfach hin. Und ich sag: »Entschuldigen Sie …« Da schaut er mich an und fragt: »Bist du nicht die Tante Freda?« – »Nein, ich bin keine Tante. Aber ich bin die Freda, meinst du die Freda Meissner?« – »Ja, ja.« Dann stellt sich heraus: Er ist ein Enkel der Tante Hannah, der Froschi, ein Architekt aus Kiel. Das war ein richtig nettes Treffen, wir saßen stundenlang und erzählten – und haben uns dann nie wiedergesehen.

      Ich möchte noch etwas über diese Tante Hannah erzählen: wie es dazu kam, dass sie überhaupt Enkelkinder bekommen hat. Das sagt auch einiges über meine sozialen Wurzeln oder das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin. Diese Tante Hannah war das Fröschlein bzw. die Froschi, weil sie ganz zart war und den ganzen Hals voller Akne hatte. Damit hatte sie keine guten Heiratsaussichten, die auch standesgemäß gewesen wären. Eines Tages wurde sie auf eine Ägyptenreise geschickt – mit einer Chaperon.

       Eine Chaperon? Was ist eine Chaperon?

      Kennen Sie nicht mehr die Institution der Chaperon? Eine Chaperon ist eine Anstandsdame, die – wie soll ich sagen – die Konvention aufrecht erhält, eine Dame, meist aus verarmtem Adel, die eine jüngere Person aus guter Familie begleitet, damit ihr nichts zustößt. Auf gut Deutsch: damit sie keinen ungehörigen Flirt anfängt oder Ähnliches. Aber auf der anderen Seite hätte man die Froschi schon ganz gern verheiratet, trotz oder wegen der Akne. Sie fährt also nach Ägypten – das war damals eine exklusive Unternehmung – und lernt dort tatsächlich auf einem Nildampfer einen jungen Deutschen kennen: Hans Poser, damals schon Doktor Hans Poser. Er hatte Geografie studiert. Nach der Ägypten-Reise kam er und hielt um Froschis Hand an. »Sein Vater ist Gärtner«, sagte die Großmama noch, »ein G-ä-r-t-n-e-r!« Aber weil die Froschi keine großen Chancen hatte, wurde die Heirat genehmigt, obwohl die Eltern »nur« Gärtner waren. Ich fand das toll, denn seine Eltern waren ganz urige, nette Leute. Sie kamen zur Hochzeit, daran erinnere ich mich gut, obwohl ich noch klein war. Dieser Hans Poser zog dann mit Froschi nach Göttingen, wo er an der Universität ein bedeutender Grönlandforscher wurde.

      Die Gärtner waren ja überhaupt für mich eine wichtige frühe Erfahrung.

       Wegen der Natur oder …?

      Nein, nicht was Sie jetzt vielleicht glauben. Sondern: Auf der Alm, bei dieser Holzvilla, gab es einen Gärtnerburschen, der für meine Großeltern gearbeitet hat. Er war ein Tscheche, der schlecht Deutsch konnte. Ich hab ihn ein bissel verehrt, er war so etwas wie meine erste Liebe, natürlich heimliche Liebe, was immer Liebe heißt, wenn man gerade einmal sechs oder sieben Jahre alt ist. Eines Tages arbeitete er wieder auf der Alm, auf der Böschung. Meine Großmutter ist auch da – diese äußerst gestrenge, selbstbewusste und mächtige Frau, vor der ich immer etwas Angst hatte. Sie steht hinter dem Rhododendron, tritt hervor, und sie spricht zu ihm herunter. Streng sagt sie zu ihm, was er zu tun hat, und nicht dort soll er arbeiten, sondern das soll er machen. Er nimmt seine Kappe runter, beugt demütig den Kopf und sagt: »Ja, vážená paní!« »Gnädige Frau«, heißt das. Ich hätte heulen können. Ich wollte ihm sagen: »Steh gerade, mach das nicht!« Ich wusste, er war bettelarm, es waren so viele bettelarm in den 1930er Jahren. Diese Unterwürfigkeit hat mir damals sehr wehgetan.

      Nach einigen Wochen war er verschwunden. Sie hat ihn wahrscheinlich gekündigt. Ich konnte ihn nicht vergessen, und so habe ich das Stubenmädchen nach ihm befragt. Ich erfuhr, dass er ins tschechische Militär in die Kaserne in Znaim einberufen worden war. Ich bekniete dann den Chauffeur meiner Großeltern, der uns von Reichenberg nach Linz fuhr, wo wir damals schon wohnten, einen Umweg über Znaim zu fahren. Wir fuhren an der Kaserne vorbei. In meiner Naivität habe ich geglaubt, er steht da und wartet, bis wir kommen. Es war spät am Abend, und natürlich war kein Mensch auf der Straße, also null Erfolg, ich habe ihn nie wieder gesehen. Aber damals kam mein Schmerz über Unterdrückung erstmals auf, zugleich habe ich so etwas wie eine Revolte gegen meine Großmutter in mir gespürt. Ich habe zumindest innerlich gegen sie revoltiert. Denn wie kann sie so zu ihm sprechen, dass er so demütig den Kopf beugt?

       Revolte, Rebellion … Gab es in dem Milieu, in dem Sie aufgewachsen sind, womöglich auch in Ihrer Verwandtschaft Personen, die ein Gegenbild zu den strengen Konventionen dargestellt hätten?

      Ja! Ich hatte ja noch einige andere Tanten und Onkel, nicht nur die Froschi. Und eine dieser Tanten habe ich bewundert und geliebt. Sie hatte große Schwierigkeiten mit ihrer Mutter, die ja eben meine Stiefgroßmutter war. Sie war eigentlich eine Rebellin. Denn diese Tante Änni hatte verschiedene Liebeleien, und das war ja etwas völlig Verbotenes. Es wurde immer bloß so leise gesprochen, geflüstert. »Da in Innsbruck«, hieß es immer, sie hatte jemanden in Innsbruck. Ich habe natürlich nie die Details erfahren. Änni war relativ groß, hatte einen freien Gang, trug ihre Haare kurz und ein bissel wild. Wenn sie gelacht hat, habe ich immer an eine Löwin mit strahlenden Augen СКАЧАТЬ