Название: Die Frage bleibt
Автор: Freda Meissner-Blau
Издательство: Bookwire
Жанр: Афоризмы и цитаты
isbn: 9783902998088
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Mein Bruder Peter kam 1920 in Leipzig, wo unser Vater Nationalökonomie studierte und 1926 promovierte, auf die damals auch recht unruhige Welt; meine Schwester Doris schließlich 1925 in Prag. Mit ihr hätte die Familie komplett sein sollen. Doch als Papa seine erste Stelle in Dresden bei General Motors (!) annahm, war meine Mutter ein viertes Mal schwanger. Mein Vater fand, dieses Kind sollte nicht geboren werden. So hat es mir jedenfalls meine Mutter später erzählt – verbunden mit einer ziemlich drastischen Beschreibung, wie sehr sie sich bemühte, mich abzutreiben. Ich war in diesem sehr frühen Stadium offensichtlich schon rebellisch genug, mich dem Willen der Eltern nicht zu fügen: Ich blieb frech vorhanden. Schließlich kam auch ich zur Welt, das war im März 1927, und enttäuschte meine Eltern gleich ein zweites Mal: Ich war nicht der – zumindest – erwartete Bub, der Thomas hätte heißen sollen, sondern ein dünnes, rothäutiges Mädchen mit Haarbüscheln auf den Ohren. »Das ist doch kein Kind«, soll meine verehrte Erzeugerin gesagt haben, »das ist ja ein abgehäuteter Hase«! Die Freude war also nicht überwältigend. Aber der Mensch ist doch ein Wesen der Möglichkeiten und alles fließt: Noch bevor ich erwachsen werden sollte, sagte meine Mutter mir, wie herzinniglich froh sie sei, dass es mich gibt.
Mit meiner Mutter und meinen Geschwistern, Weihnachten 1927, v. l. n. r.: Doris, Marianne, Freda, Mimikatz, Peter
Mein Vater war übrigens auch Journalist und hat geschriftstellert; er engagierte sich vor allem für die Rechte von Minderheiten. Das Geld hatte die Mami. Sie kam aus einer sehr wohlhabenden Industriellenfamilie in Nordböhmen, und er war der Sohn einer k. u. k. Offiziersfamilie, die nach dem Ende der Monarchie nichts mehr hatte. Er suchte permanent seine Bestätigungen in der Welt und führte ein Leben als Mann wie als Intellektueller, der jede Gesellschaft bezaubern kann. Betrat er einen Raum, war er sofort der Mittelpunkt, da war viel Ausstrahlung und Witz, auch eine gerüttelte Portion Ironie.
Gibt es eine Geschichte dazu?
Ich kann mich an einen dieser Damentees meiner Mutter erinnern, die sie regelmäßig abhielt. Diese »jours«, wie das hieß, habe ich gehasst. Wir Kinder mussten dort reingehen und Knickschen machen und »Küss die Hand!« sagen. Dann kamen von den Damen immer diese dummen Fragen: »Ist der Herr Lehrer brav?« Ich hatte eine widerwärtige Frau Lehrerin, was soll ein Kind da sagen? Dann sind wir wieder abgezogen und haben neidisch auf die delikaten Brötchen geschaut und geflüstert: »Hoffentlich bleiben welche übrig.« Einmal kam auch mein Vater herein. Die Damen werden plötzlich alle ganz still und der Papa hat seine Vorführung. Dann geht er wieder weg, und da höre ich, wie eine sagt – bitte, ich muss damals gerade einmal sechs Jahre alt gewesen sein: »Ein dämonischer Intellekt!« Ich wusste natürlich weder was ein Intellekt noch was dämonisch ist, aber ich habe mir das bis heute gemerkt. Nachher habe ich gespürt, wie sich die Atmosphäre schlagartig veränderte, da gab es dann plötzlich wieder das Damentee-Geplaudere. Aber vorher diese Stille, nachdem der Papa reingekommen war … Damit hat er mir eigentlich immer noch mehr imponiert, aber mich auch ein wenig erschreckt.
Mit meinen Geschwistern Marianne, Peter und Doris, 1931 in Linz (Freda 2. v. l.)
Meine Mutter hat eigentlich überhaupt nicht zu ihm gepasst. Der brauchte eine schicke, mondäne Frau, nicht eine so bescheidene, denn meine Mutter war unerhört bescheiden, eher frugal und nicht auftrumpfend. Das alles war ihr völlig fremd, das gehörte sich auch nicht. »It was not done«, das war wirklich so, man hat das nicht getan. In der Kunstgeschichte und im Alpinismus, ja, da haben sich die beiden sicher verstanden, aber sonst hatten sie kaum Gemeinsamkeiten.
Obwohl: Beide waren sehr anglophil und sehr gebildet. Sie haben vieles gekannt und gelesen, auch den Freud haben sie gelesen, nur haben sie in keiner Weise vom Gelesenen Gebrauch gemacht. Ich kann mich an die Gespräche und Situationen bei Tisch erinnern, bei denen wir Kinder natürlich nicht sprechen durften, da haben wir einfach zugehört. Da ging’s die ganze Zeit um die Ereignisse und Großen dieser Welt, was die so alles geschrieben haben. Und wenn sich die Eltern stritten, sprachen sie immer englisch, damit wir sie nicht verstehen. Genau dadurch lernte ich schnell Englisch, weil ich wissen wollte, was sie sagen. Früher oder später fing meine Mutter bei Tisch zu weinen an. Sie war ein bissel neurotisch und instabil, sie hat auch immer Schlafmittel genommen. Dann hat sie uns erpresst, zum Beispiel: »Wer mich lieb hat, holt mir ein Glas Wasser.« Meine drei Geschwister sind gesessen und haben gegrinst, aber ich bin gerannt, immer! Sie wussten ja, die Freda, die rennt. Und wenn sie unglücklich war, sorgte ich mich: »Mami, was hast du denn?« Ich wollte sie trösten. In ihrer Art hat meine Mutter mich ja geliebt, aber es war eben nicht das, was ich gesucht habe, dieses Bedingungslose, sondern es hieß immer »wenn – dann«: »Wenn du das machst, dann bist du lieb.« Ich bin immer gerannt, habe mir ihre Liebe erarbeiten wollen und fühlte mich immer verantwortlich für sie, als sei ich ihre Mutter.
Nein, es war keine harmonische Familie: ein Vater, der sich für uns eigentlich nicht interessiert hat; und die Mutter, die ihre Emotionen nicht in der Hand hatte, die immer aus ihr ausbrachen, ohne zu bedenken, was das für uns Kinder hieß, wenn sie zum Beispiel sagte: »Euer Vater, der Schuft, hat uns verlassen!« Ja, 1939 verließ er uns ja wirklich und endgültig, und ich war traurig. Aber dass er dazu auch noch ein Schuft war, das fand ich schrecklich.
Natürlich gab es auch schöne Momente. An manchen Abenden sind wir zusammengesessen und haben gespielt: Mikado, Dame, Domino oder Quartett. Diese seltenen Momente habe ich sehr genossen. Sonst gab es kaum Familienleben. Ich habe zum Beispiel meine Eltern kaum jemals mit ihren Händen arbeiten gesehen, jeder war in seinem Zimmer auf seiner geistigen Ebene. Wie hat das später meine Tochter Aleksandra genannt? »Ihr mit eurer Kopflastigkeit!« Ich hatte ihr, die ja bereits mit sechzehn Jahren maturierte, gesagt: »Du kannst mit zwanzig dein Doktorat haben.« Und da sagt sie: »Ich denke nicht dran, dass ich eure Hirnwichserei mitmache!«
Diese »Hirnwichserei« – jetzt müssen wir beide lachen: Wie hat sich die in Ihrem Elternhaus geäußert?
Ich muss vielleicht acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als mir meine Eltern den »Simplicius Simplicissimus« und Lyrik von Eichendorff und Brentano zu lesen gegeben haben. Ich hab’s brav gelesen, aber natürlich ohne großes Verständnis für den Inhalt. Außerdem wurden wir Kinder immerzu gefragt, wir wurden dauernd geprüft – und zwar vom Vater. Wir sind zum Beispiel im Zug gefahren, um zu irgendeiner Skihütte zu kommen. Er schaut aus dem Fenster und fragt – da war ich keine sechs Jahre alt: »Was ist das für ein Fluss?« Keine Ahnung! Aber ich möchte es so gern wissen, um ihm die richtige Antwort geben zu können. Er sagt: »Das ist die Enns. Weißt du das nicht?« Dann fragt er weiter: »Wo entspringt die Enns? Wo mündet СКАЧАТЬ