Название: Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Автор: Honore de Balzac
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962815226
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»Halt da, Frau!« rief Herr de Sucy.
Sie kam langsam bis ans Gitter heran und betrachtete mit stumpfsinnigem Gesicht die beiden Jäger, bei deren Anblick ihr ein schmerzliches, gezwungenes Lächeln entschlüpfte.
»Wo sind wir denn? Was ist das für ein Haus? Wem gehört es? Wer sind Sie? Sind Sie von hier?«
Auf diese Fragen und eine Menge anderer, die die beiden Freunde nacheinander an sie richteten, antwortete sie nur mit einem aus der Kehle kommenden Knurren, das eher einem Tier als einem menschlichen Wesen zu gehören schien.
»Sehen Sie nicht, daß sie taub und stumm ist? sagte der Richter.
»Bons-Hommes!« rief die Bäuerin.
»Ah, sie hat recht! Dies könnte wohl das alte Kloster Bons-Hommes sein«, sagte Herr d’Albon.
Die Fragen begannen von neuem. Aber wie ein eigenwilliges Kind wurde die Bäuerin rot, spielte mit ihrem Pantoffel, drehte an dem Strick der Kuh, die wieder abzuweiden begonnen hatte, sah sich die beiden Jäger an und prüfte alle Teile ihres Anzugs; sie kreischte, sie knurrte, sie gluckste, aber sie brachte kein Wort heraus.
»Wie heißt du?« sagte Philipp und sah sie fest an, als wollte er sie hypnotisieren.
»Genovefa«, sagte sie mit einem dummen Lachen.
»Bis jetzt ist die Kuh die intelligenteste Kreatur, die wir hier gesehen haben«, rief der Rat. »Ich werde einen Schuß abfeuern, damit Leute kommen.«
Gerade als d’Albon seine Waffe ergriff, hielt ihn der Oberst mit einer Geste zurück und zeigte mit dem Finger auf die Unbekannte, die ihre Neugierde so lebhaft erregt hatte. Die Frau schien in tiefes Nachdenken versunken und kam mit langsamen Schritten aus einer ziemlich entfernten Allee, so daß die beiden Freunde Zeit hatten, sie genau zu betrachten. Sie war mit einem ganz abgetragenen schwarzen Seidenrock bekleidet. Ihre langen Haare fielen in zahlreichen Wellen über ihre Stirn, um ihre Schultern und reichten bis unter ihre Taille hinab, indem sie ihr als Schal dienten. An diese Unordnung offenbar gewöhnt, schob sie nur selten ihr Haar von beiden Schläfen hinweg; dann aber schüttelte sie das Haupt mit jäher Bewegung und brauchte sich nicht zweimal zu bemühen, um ihre Stirn oder ihre Augen von dem dicken Schleier zu befreien. Ihre Geste zeigte übrigens wie bei einem Tier die bewunderungswürdige mechanische Sicherheit, deren Schnelligkeit bei einer Frau wie ein Wunder erscheinen mußte. Die beiden Jäger sahen sie erstaunt auf einen Ast des Apfelbaums springen und sich hier mit der Leichtigkeit eines Vogels festhalten. Sie griff nach den Früchten, verspeiste sie, dann ließ sie sich mit zierlicher Lässigkeit, wie man sie an den Eichhörnchen bewundert, zur Erde fallen. Ihre Glieder besaßen eine Elastizität, die ihren geringsten Bewegungen jeden Anschein von Mühe oder Anstrengung nahm. Sie spielte auf dem Rasen, kugelte sich dort wie ein Kind herum; dann streckte sie plötzlich ihre Füße und Hände aus und blieb ausgebreitet auf der Wiese mit der Unbekümmertheit, der Grazie und der Natürlichkeit einer jungen Katze liegen, die in der Sonne eingeschlafen ist. Als der Donner in der Ferne grollte, wandte sie sich plötzlich und stellte sich mit bewundernswerter Geschicklichkeit auf alle viere wie ein Hund, der einen Fremden kommen hört. Durch diese merkwürdige Haltung schied sich ihr schwarzes Haar sogleich in zwei breite Flechten zu jeder Seite ihres Kopfes und erlaubte den beiden Zuschauern bei dieser seltsamen Szene ihre Schultern zu bewundern, deren weiße Haut wie die Gänseblümchen auf der Wiese leuchteten, und einen Hals, dessen Vollkommenheit auf all das übrige Ebenmaß ihres Körpers schließen ließ.
Sie ließ einen Schmerzensschrei hören und stellte sich ganz auf ihre Füße. Ihre Bewegungen folgten einander so graziös und wurden so leicht ausgeführt, daß sie kein menschliches Wesen, sondern eine der durch die Dichtungen Ossians berühmt gewordenen Töchter der Luft zu sein schien. Sie ging an eine der Wasserflächen heran, schüttelte leicht ein Bein, um ihren Schuh loszumachen, und schien ein Vergnügen daran zu finden, ihren alabasterweißen Fuß in die Quelle zu tauchen, während sie sich jedenfalls an den Wellenbewegungen ergötzte, die sie dabei erzeugte und die Edelsteinen glichen. Dann kniete sie an dem Rande des Bassins nieder und amüsierte sich wie ein Kind damit, ihre langen Flechten ins Wasser zu tauchen und sie dann schnell wieder herauszuziehen, um Tropfen für Tropfen das Wasser, von denen es voll war, hinablaufen zu lassen, das, von den Sonnenstrahlen durchleuchtet, einen förmlichen Rosenkranz von Perlen bildete.
»Das Weib ist irrsinnig!« rief der Rat aus.
Ein rauher Schrei, den Genovefa ausstieß, wurde laut und schien sich an die Unbekannte zu richten, die sich schnell umwandte und ihr Haar von beiden Seiten ihres Gesichtes wegstrich. In diesem Moment konnten der Oberst und d’Albon deutlich die Züge der Frau erkennen, die, als sie die beiden Freunde bemerkte, in mehreren Sprüngen mit der Leichtigkeit einer Hirschkuh auf das Gitter zueilte. »Adieu!« sagte sie mit sanfter, wohlklingender Stimme, aber ohne daß dieser, ungeduldig von den Jägern erwartete melodiöse Ton das geringste Empfinden oder das geringste Denken verriet.
Herr d’Albon bewunderte die langen Wimpern ihrer Augen, ihre schwarzen dichten Augenbrauen und ihre blendend weiße Haut ohne den geringsten Schimmer von Röte. Feine blaue Adern durchzogen allein ihren weißen Teint. Als der Rat sich umwandte, um seinem Freunde mitzuteilen, welches Erstaunen ihm der Anblick dieses seltsamen Weibes eingeflößt hatte, sah er diesen wie tot auf dem Grase liegen. Herr d’Albon schoß sein Gewehr in die Luft ab, um Leute herbeizurufen und schrie: »Zu Hilfe!« während er versuchte, den Obersten aufzurichten. Bei dem Knall des Schusses floh die Unbekannte, die bis dahin unbeweglich verharrt hatte, pfeilschnell davon, stieß Schreckensschreie wie ein verwundetes Tier aus und rannte über die Wiese mit allen Zeichen tiefsten Schreckens. Herr d’Albon vernahm das Heranrollen einer Kalesche auf der Landstraße СКАЧАТЬ