Название: Die authentische Stadt
Автор: Stefan Lindl
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Passagen Architektur
isbn: 9783709250402
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Kultur ist die Umwelt des Lebensvollzugs, die ihn bestimmt. Kulturerbe ist die immaterielle und materielle zeitlich autonome Äußerung der Relation Kulturumwelt / Lebensvollzug.
Werte
Dem Kulturerbe lassen sich verschiedene Werte zuschreiben. Offensichtlich ist der ökonomische Wert, auf dem die Tourismusbranche aufbaut und ebenso mit Kulturerbe wie mit Naturerbe ihre Profite generiert. Auf der anderen Seite dieser Profite steht das Problem fossiler Mobilität, die eine Autonomie eines anderen Denkens ist, nicht aber die der Kultur der Nachhaltigkeit. Aber neben diesem ökonomischen Wert gibt es auch die historische Wertigkeit des Kulturerbes. Historischer Wert ist seit dem späten 19. Jahrhundert ein Kampfbegriff geworden, der mit den Namen Georg Dehio und Alois Riegl verknüpft ist. Besonders Alois Riegl ist für die Definition des historischen Werts ausschlaggebend.16
Riegl unterbreitete 1903 einen universalistischen Vorschlag der Denkmaltheorie in seiner Publikation Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, Wien 1903. Riegl war einer der prominentesten Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte und entwickelte in Reflexion sowie Bewertung des Historismus des 19. Jahrhundert eine Werteordnung des Baukulturerbes, die bis heute zumindest in der Kunstgeschichte und in Teilen im Denkmalschutz und der Denkmalpflege wegweisend ist.17 Der Wiener Kunsthistoriker unterschied zwischen Erinnerungswerten und Gegenwartswerten. Vor allem die Erinnerungswerte sind für die authentische Stadt interessant. Zwischen Alterswert, historischem Wert und gewolltem Erinnerungswert differenziert dieses Ordnungssystem. Die Geschichtlichkeit spielte im Alterswert eine besondere ästhetische Rolle.
Geschichtlichkeit als Eigenschaften aller Dinge und Lebewesen beschreibt deren In-der-Zeit-Sein. Was sich auch immer im Universum befindet, ist in der Zeit. Kulturerbe ist in der Zeit, sobald der Beginn seines In-der-Zeit-Seins festgelegt werden kann. Auch hier bedarf es einer Konstruktion beruhend auf Indizien. Nichts ist ohne soziale Konstruktion in der Zeit, wenn es gleichzeitig auch sozial relevant sein sollte. Der Beginn des In-der-Zeit-Seins kann beispielsweise die Planungsphase oder der erste Spatenstich oder die Fertigstellung sein. Der materielle Bestandteil des Kulturerbes bleibt bis zu seiner Auflösung in der Zeit. Der immaterielle Teil, die soziale Konstruktion und ihre Wissensformationen, der, wie hier erläutert, keineswegs eine marginale Rolle spielt, bleibt ebenfalls weiterhin in der Zeit als Erinnerung.
Doch verharren wir zuerst auf der Seite des Materiellen: Der Bauplatz, auf dem jenes Bauwerk errichtet wurde, entkommt der Zeit nicht. Wenn ein neues Nachfolgebauwerk errichtet wird, so ist zwar das zerstörte und abgetragene Bauwerk nicht mehr in der Zeit, aber der Bauplatz sehr wohl. So wird das Nachfolgebauwerk das verlorene Bauwerk in seiner sozialen Konstruktion tragen. Das In-der-Zeit-Sein ist ein Garant für Wissen über den Bauplatz und ermöglicht eine Art Biografie zu erstellen, ähnlich dem Curriculum Vitae, das auch Transformationen enthält, von der Geburt über die Kindheit zu Qualifikationsstufen des Bildungssystems, Wahl des Berufs, Änderung des Familienstands. Die Sicherheit, dass alles, was ist, und alles, von dem wir wissen, dass es war, geschichtlich ist, ermöglicht uns die Gewissheit, Informationen darüber zu finden und den historischen Wert eines Kulturerbes zu ermitteln und zu beschreiben. Die zeitliche Autonomie der Dinge jedoch ist so entscheidend für den Alterswert wie die natürliche Erosion und der natürliche Zerfall der Dinge, der sich unweigerlich vollzieht, wenn Menschen die Zerfallsprozesse nicht stoppen. Die Patina und die autonome Ästhetik des Alten geben den entscheidenden Ausschlag in der von Alois Riegl vorgestellten Wertschöpfung.18 Er beschreibt die historische Eigenschaft des baulichen Kulturerbes mit Worten, die nicht nur für seine Zeit radikal klangen:
„Vom Standpunkte des Alterswertes muß eben nicht für ewige Erhaltung der Denkmale einstigen Werdens durch menschliche Tätigkeit gesorgt sein, sondern für ewige Schaustellung des Kreislaufes vom Werden und Vergehen, und eine solche bleibt auch dann garantiert, wenn an Stelle der heute existierenden Denkmale künftighin andere getreten sein werden.“19
Die Textstelle aus dem Modernen Denkmalkult lässt sich als Laissez-faire-Haltung interpretieren, die notwendig ist, um Geschichtlichkeit am Denkmal sichtbar zu machen. Die natürliche Erosion versteht er als schützenswerten Bestandteil des Denkmals. Das ist radikal, aber noch verständlich, wenn auch gegen das aufkeimende moderne Verständnis von Denkmalpflege gerichtet, das auf Konservieren ausgerichtet war und die Erosionsprozesse stoppen wollte, um Denkmale zu erhalten. Aber erstaunlich wäre es, seine Worte weiterführend zu denken: „… sondern für ewige Schaustellung des Kreislaufes vom Werden und Vergehen, und eine solche bleibt auch dann garantiert, wenn an Stelle der heute existierenden Denkmale künftighin andere getreten sein werden“. Wie sollte so eine „Schaustellung“ möglich sein, vor allem wenn die Denkmale nicht mehr existieren und andere auf deren Bauplatz entstanden sind? Das СКАЧАТЬ