Название: Die authentische Stadt
Автор: Stefan Lindl
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Passagen Architektur
isbn: 9783709250402
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Am Beispiel eines prominenten Kulturerbes, der Mona Lisa, wird deutlich, warum dieses Bild einen erheblichen kunsthistorischen Wert erlangte. Obgleich das Wissen über die Mona Lisa nicht allgemein präsent ist, hat es dazu geführt, dass das Gemälde eine geradezu kultische Verehrung genießt. Dieses Wissen um die Wertschöpfung des Gemäldes scheint keinesfalls notwendig für seine Huldigung zu sein. Aber es hilft zu erläutern, warum es diese extrem ausgeprägte Ikonodulie der Mona Lisa gibt und warum sie Grund ist, nach Paris zu fahren.10
Leonardo da Vinci, der Schöpfer des im langwierigen Sfumato lasierten Gemäldes, verbrachte seine letzten zwei Jahre, 1518–1519, auf Schloss Clos Lucé in Amboise. Von Franz I. war er eingeladen und mit Heim und Rente versorgt worden. Nach Clos Lucé hatte er neben den Bildern Anna selbdritt und Johannes der Täufer auch Mona Lisa mitgenommen. Franz I. kaufte die Mona Lisa, je nach Spekulation vor oder nach des Universalgelehrten Tod. Damit beginnt Lisas Reise. Von Schloss Amboise nach Fontainebleau, von dort nach Versailles in die Kunstsammlung Ludwigs XIV. Die Revolution transportierte das Bild in den Louvre, der als Muséum central des arts de la République am 10. August 1783 eröffnet worden war.11 Napoleon verbrachte es in seine Privatgemächer. Nach seiner Verbannung wurde es wieder im Louvre ausgestellt. Gewaltig wuchs die Bekanntheit des Tafelbildes im 19. Jahrhundert. Dafür sorgte die europaweite Rezeption Giorgio Vasaris Le Vite de’più eccellenti pittori, scultori et architettori.12 Vasari stilisierte Leonardos Mona Lisa zum Ideal der mimetischen Kunst. „Wer sehen wollte, wieweit es der Kunst möglich sei, die Natur nachzuahmen, der erkannte es ohne Schwierigkeiten an diesem Kopfe. Denn alle kleinsten Einzelheiten waren darin dargestellt, die man mit aller Feinheit nur malen kann.“13 Entscheidend für die deutsche Vasari-Rezeption war Ludwig von Schorn, der die Künstler der Renaissance ins Deutsche übersetzt herausgegeben hatte.14 Aber der Vasari-Mona-Lisa-Diskurs und die historische Entourage der Mona Lisa ermöglichten nicht annähernd die Prominenz, die das Bild am Beginn des 20. Jahrhunderts erlangen sollte. Nicht künstlerischer Qualität, nicht Leonardo, nicht Franz I. noch Ludwig XIV., Napoleon I. und schon gar nicht den Historisten gelang die narrative Wertschöpfung, die durch einen unbekannten italienischen Migranten erfolgte, der weder durch geschickte Kriegsführung und Schlachtenglück noch durch künstlerische Genialität auffallen hatte können. Vincenzo Peruggia arbeitete als Glaser und hatte berühmte Gemälde des Louvre mit Glasplatten versehen, um ihnen Schutz vor den Besuchern zu gewähren.15 Die Ortskenntnis und das Wissen um die Bilder verhalfen ihm, den bis dahin spektakulärsten, weltweit wahrgenommenen Kunstraub am 21. August 1911 auszuführen. Gerade durch die diskursive Wertsteigerung der Vasari-Rezeption war die Mona Lisa zum Objekt der Begierde geworden. Er versteckte zwei Jahre lang das Kunstwerk in seiner Wohnung. Während dieser Zeit gab es eine Reihe von prominenten Verdächtigen. Der Lyriker Guillaume Apollinaire und Pablo Picasso gerieten aufgrund von Denunziation unter Verdacht; Apollinaire wurde verhaftet, Picasso nur verhört. Zwei Jahre nach dem spektakulären Kunstraub bot Vincenzo Peruggia die Mona Lisa einem Florentiner Kunsthändler an, der informierte den Direktor der Uffizien, Giovanni Poggi. Gemeinsam überzeugten sie sich von der Echtheit des angebotenen Tafelbildes. Sie informierten die Polizei. Peruggia wurde verhaftet. Im Verhör gab er an, aus Nationalgefühl gehandelt zu haben. Er wollte das berühmte Bild in seine Heimat Italien schaffen. Als freier Mann ging Peruggia aus dem Gerichtsgebäude, weil er seine Strafe bereits in der Untersuchungshaft abgesessen hatte. Es blieb nicht aus, dass Italien Vincenzo Peruggia als Nationalheld verherrlichte und feierte. Über Mailand kam das Gemälde im Dezember 1913 wieder zurück in den Pariser Louvre. Mona Lisas unruhige Geschichte ging weiter, eine Flucht vor Hermann Görings Kunstleidenschaft, ein Aufenthalt im Schloss Chambord, die Rückkehr in den Louvre. Doch dann brachte die Ausstellung des Kunstwerks in New York weitere soziale Konstruktionen hervor. Vor allem ihre Überführung durch Andy Warhol in die Reproduzierbarkeit seiner industrialisierten Kunstproduktion durch Siebdruck machte die Mona Lisa zu einer Ikone der Populärkultur, die sich ablöste von der elitären Kunstschwärmerei des 19. Jahrhunderts. Gegenwärtig ist die Mona Lisa das bekannteste Gemälde der Welt. Es ist nicht von sich aus prominent erschaffen worden. Vasari hatte entscheidenden Anteil daran, aber auch seine Rezipienten, die seine Texte über Leonardo da Vinci in die Moderne trugen, und natürlich Peruggia und Warhol. Nur durch diese soziale Konstruktion konnten die Prominenz und der gewaltige historische Wert entstehen, ganz zu schweigen von dem ökonomischen und dem kunsthistorischen. Was wäre gewesen, hätte Vasari nicht dieses Werk als mimetisches Ideal gelobt? Das 19. Jahrhundert hätte die Mona Lisa möglicherweise nicht entdeckt. Und vielleicht wäre es, wie so viele Kunstwerke, im Louvre der breiten Masse der Touristenströme entgangen: Beispielsweise Gian Lorenzo Berninis Matratze des Schlafenden Hermaphroditen aus weißem Marmor von 1620. Ebenso ein grandioses Stück mimetischer Kunst. Leider war es nicht einfach zu stehlen und Giorgio Vasari war schon längst gestorben, als Bernini auf die Welt kommen sollte. Aber auch die Hochzeit zu Kana von Paolo Veronese gehört zu den nicht ganz so weltberühmten Kunstwerken des Louvre. Es ist ein Bild größter Ausmaße: Vor lauter Mona Lisa, obgleich im selben Saal gegenüber der Berühmtheit aufgehängt und keineswegs seiner schieren Größe wegen zu übersehen, ist dieses Kunstwerk aufgrund mangelnder sozialer Konstruktion nicht mit annähernd ähnlichem Wert ausgestattet. Zum Wert gehört Wissen, verpackt in eine aufregende Geschichte.
Jede soziale Konstruktion bildet sich in einem spezifischen kulturellen Rahmen aus; sie ist kulturabhängig, heißt, sie ist soziale Konstruktion, die nur für eine soziale Gruppe (im weitesten Sinne) gilt. Besucherinnen und Besucher des Louvres, die kunsthistorisch gebildet oder gar ausgebildet sind, werden die Werte ganz anders verteilen, weil sie über anderes Wissen verfügen als die breite Masse des Besucherstroms. Wieder generiert Wissen die Dinge.
Wissen bestimmt die Qualität eines Objekts und darauf ruht dessen Wert. Aber der Grad der Wissensverbreitung trägt erheblich zur Wertschöpfung eines Objekts bei. Je weiter verbreitet die soziale Konstruktion des Werts eines Objekts ist, desto prominenter, erhabener und wertvoller erscheint das Objekt. Je weniger das Wissen um die Qualität eines Objekts diffundiert, wie der Fall des Bildes von Paolo Veronese zeigt, desto geringer ist sein Wert und sein Ansehen. Die Reichweite, beruhend auf der Diffusion von Wissen, scheint ein erheblicher Faktor der Relation Wissen / Wert zu sein. Soziale Konstruktion und deren Diffusion sind erheblich wichtiger als das Objekt selbst, auf das sie sich bezieht.
Kultur
Bislang war die Rede allgemein von Wert, ein noch unbestimmter Wert der Dinge, eine soziale Konstruktion. Bezogen auf die authentische Stadt weist Wert einige Spezifika auf. Ohne bereits auf das Authentische oder die Authentizität eingehen zu wollen, bleibt der Blick auf Bauwerke, die eine Stadt einzigartig machen. Durch sie wird die Individualität der Stadt sinnlich wahrnehmbar erzeugt. Das mag in Bekundungen ästhetischen Erstaunens münden, wie „Tolle Atmosphäre!“, „Ach, wie schön!“ oder einfach nur: „Wow!“. Aber diese scheinbare Spontaneität überschwänglicher Überwältigungsbekundungen für prominente Kulturdenkmale ruht auf diffundiertem Wissen und ästhetischer Präpositionierung durch Reiseblogs, Filme, Fotos, Erzählungen, Reiseliteratur. Die Stadtsilhouette von Florenz, der Markusplatz in Venedig, der Hradschin in Prag, die Pyramiden von Gizeh, die Golden Gate Bridge bei San Francisco, die Chinesische Mauer sind solche prominenten Beispiele, mit denen die Betrachtenden auf ihre soziale Präpositionierung СКАЧАТЬ