Название: Die Familie Lüderitz
Автор: Paul Enck
Издательство: Автор
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783873222984
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Der Ort selbst wirkt geplant, und das ist er auch: Es handelt sich um die 1895 von Ferdinand Kindermann gegründete Villensiedlung. Im Jahr 1910 hatte Waldsieversdorf 378 Einwohner, einer davon war Carl Lüderitz.
Unsere erste Informationsquelle für Waldsieversdorf, das vor 1907 Wüste Sieversdorf hieß, waren der rührige, leider 2019 verstorbene Heimatforscher Dr. Ottfried Schröck (13) und sein Freund Richard Bosdorf. Letzterer ist der heute 80-jährige Sohn des ehemaligen Bürgermeisters von Waldsieversdorf. Beide hatten Carl nicht mehr erlebt, wussten aber zu berichten, dass nach dem Zweiten Weltkrieg im Nachbarhaus Kindermannstraße 28 „Tante Ida“, die Haushälterin des Armenarztes wohnte (–> Kapitel 15). Sie war 24 Jahre jünger als Carl, was uns zu Spekulationen und Fantasien Anlass gab. Hier nur so viel: Sie starb 88-jährig im Jahre 1966 in der Alterspsychiatrie in Eberswalde. Sie war es auch, die den Tod von Carl Lüderitz meldete: Carl Lüderitz starb am 16. November 1930 in seinem Haus in Waldsieversdorf. Er wurde laut Sterbeurkunde des Standesamtes Buckow, zu dem der Ort gehört, 76 Jahre alt. Sein Neffe Georg gab später als Todesursache „Nierenschwund“ an, was auf eine chronische Nierenerkrankung hinweisen könnte. Allerdings ist diese Diagnose vorsichtig zu interpretieren. Da Carl Lüderitz der einzige Arzt in dieser Familie war, ist die mündliche Überlieferung der Diagnose „Nierenschwund“ vermutlich verzerrt, und es könnte sich auch um ein „hepatorenales Syndrom“ bei Leberzirrhose gehandelt haben (14).
Aber was hat der Sanitätsrat zwischen 1907 und 1930 in Waldsieversdorf gemacht? Warum ist er überhaupt dorthin gegangen? Die erste Idee war, es könnte ihn wegen des dort zwischen 1906 und 1908 von Ferdinand Kindermann gegründeten Sanatoriums dorthin gezogen haben. Aber das erwies sich schnell als falsche Spur: Sanatoriumsarzt war ein Dr. Otto Friederich aus Müncheberg, der 1899 die Tochter von Kindermann geheiratet hatte. Auch in der Umgebung fand sich keine Spur von Carl als Land-, Dorf- oder Stadtarzt. Erst das liebe Geld brachte uns auf die richtige Fährte: Er hat sich zur Ruhe gesetzt, wurde Privatier. Und das kam so:
Als Carls Mutter Lucie Lüderitz geb. Neider 1875 das Haus in der Markgrafenstraße 74 verkaufte, hat sie dafür wahrscheinlich erheblich mehr bekommen als das, was die Familie Lüderitz-Doussin viele Jahre zuvor hineingesteckt hatte. Benötigt wurde dieses Geld sicherlich für die Ausbildung, speziell für das Studium von Carl und Hermann und für die Mal-Ambitionen von Elisabeth. Albert war zu jenem Zeitpunkt noch nicht Angestellter der Reichsbank, sondern Kaufmann. In der Folgezeit zogen Lucie Lüderitz und ihre Familie, nach und nach kleiner werdend, von Mietwohnung zu Mietwohnung. Zunächst lebte man in der Friedrichstadt (heute: Mitte), dann in der Luisenstadt (heute: Kreuzberg), später ging es nach Friedenau. Zuletzt wohnte Lucie Lüderitz allein in Friedenau in der Fregestraße 62, wo sie am 8. September 1900 starb.
Wenige Jahre danach (laut Adressbuch vor 1903) kauften die beiden Brüder Albert und Carl Lüderitz in Friedenau (damals ein Teil von Schöneberg) zwei Wohnhäuser: Cranachstraße 51 und 52. Während Albert mit seiner Familie 1903 in die Nr. 51 zog und dadurch endlich bis 1918 ein dauerhafteres Zuhause hatte (–> Kapitel 4), verkaufte Carl seinen Teil vor seinem Umzug nach Waldsieversdorf im Oktober 1906.
Einmal auf die Spur des Geldes gesetzt, recherchierten wir weiter. Nachdem wir von der Villenkolonie Waldsieversdorf erfahren hatten, war es naheliegend anzunehmen, dass sich Carl hier eingekauft hatte. Kindermann hatte seine Villen wie warme Semmeln zu Preisen zwischen 7500 und 20.000 RM angeboten, für Grund und Boden, für ein komplett erstelltes Haus und Anschluss an die lokale Wasserversorgung (15). Er hatte seine Pläne in ein politisches Gewand gehüllt, einschließlich Anzeigenschaltungen im sozialdemokratischen „Vorwärts“, und kämpfte auf politischem und gerichtlichem Wege für seine Kolonie. Er wohnte 1894 in Berlin-Charlottenburg (Kantstraße 63). Gut möglich, dass er den Sanitätsrat Lüderitz persönlich kannte und überzeugte, bei ihm einzusteigen.
Das zuständige Katasteramt Strausberg gab bereitwillig Auskunft: Den nur teilweise erhaltenen Grundbüchern zufolge kaufte Carl direkt von Kindermann in Waldsieversdorf drei Grundstücke, die bereits vor 1900 auf seinen Namen im Grundbuch eingetragen wurden: Kindermannstraße 28 (damals Hausnummer 27; auf diesem Grundstück stand ein Haus) sowie in der Seestraße die Grundstücke 6 und 64, beides reine Wohnbauflächen. Das Grundstück Seestraße 64, das die Verlängerung des Grundstückes Kindermannstraße 28 bis hinunter zur Seestraße am Ufer des Großen Däbernsees war, verkaufte er kurze Zeit später an einen Justizrat aus Berlin. Die beiden anderen blieben bis zu seinem Tode in seinem Besitz.
Mit diesem Polster dürfte er die mehr als 25 Jahre bis zu seinem Tod 1930 gut gelebt und wahrscheinlich auch die Zeit des Ersten Weltkriegs, die darauffolgende Versorgungskrise und die Weltwirtschaftskrise der späten 1920er Jahre gut überstanden haben.
Die Auskunft des Katasteramtes barg aber eine weitere Überraschung: Für die beiden verbliebenen Grundstücke war als Erbin Carls Haushälterin Ida Kreutzfeld eingetragen. Carl hatte also seine Haushälterin, wenn sie es denn war und nicht seine Geliebte, großzügig abgesichert. Dies gab Raum für viele Spekulationen (–> Kapitel 15).
Eines der Grundstücke wurde 1966, kurz vor Idas Tod, verkauft. Das andere wurde 1970 an eine Marie Lüderitz geb. Beymel übertragen und von dieser an eine Renate Ehrlich geb. Beymel weitergegeben. Es sollte lange dauern, bis wir die Verbindungen dieser beiden Frauen zu „unserer“ Familie Lüderitz aufgeschlüsselt hatten.
Wir wissen nicht, was Carl in den 24 Jahren, die er in Waldsieversdorf lebte, tagtäglich getan hat. Er hat gelegentlich als Arzt praktiziert, aber wohl mehr im Rahmen der Nachbarschaftshilfe. Es gibt nur zwei Dokumente, beide von 1910, denen man entnehmen kann, dass er die naturwissenschaftlich-philosophischen Debatten seiner Zeit verfolgte. Das heißt, er hat gelesen, er hat über das Gelesene nachgedacht und seine Gedanken schriftlich in dem Büchlein „Gedanken zur allgemeinen Energetik der Organismen“ (11) festgehalten.
Carl war Abonnent der Zeitschrift „Neue Weltanschauung. Monatsschrift für Kulturfortschritt auf naturwissenschaftlicher Grundlage“. Ein Brief an den Herausgeber, Dr. Wilhelm Breitenbach (1856/57 – 1937), offenbart Carls politisch-philosophische Grundgedanken (16), die er auch in seinem 1910 erschienenen Büchlein ausführte (11). Er war offensichtlich kein Anhänger von Ernst Haeckel (1834 – 1919) und dessen „Monismus“. Der rastlose und charismatische Philosoph wurde zunächst bekannt als Verbreiter der Theorien Darwins in Deutschland, die er zu einer eigenen Theorie der Einheit von Materie und Geist (Monismus) entwickelte. Zu deren Verbreitung gründete er 1906 in Jena den Monistenbund.
Lüderitz distanzierte sich von Haeckel, den er aus seiner Jenaer Zeit gekannt haben mag. Er war zwar von der Bedeutung der Naturwissenschaften überzeugt, wies aber auch den Geisteswissenschaften eine wichtige Rolle bei der Erklärung von Leib und Seele zu. Carl war offensichtlich nicht der Meinung, dass alle Vorgänge naturwissenschaftlich zu erklären seien. Sonst hätte er in dem Brief an Breitenbach nicht vehement der Vorstellung widersprochen, dass Bewusstsein durch Hirnaktivitäten zu erklären sei. Das wäre heute unter Neurophysiologen Konsens, auch wenn die exakten Hirnströme noch undefiniert sind.
Allerdings wird aus seinen СКАЧАТЬ