Eine Tasse Tee. Kathrin Groß-Striffler
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Название: Eine Tasse Tee

Автор: Kathrin Groß-Striffler

Издательство: Автор

Жанр: Публицистика: прочее

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isbn: 9783954629350

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      Sie wird nicht mehr die, die sie mal war. Ich habe Magenschmerzen. Immer wenn es schlimm wird, schlägt es mir auf den Magen. Das habe ich von meinem Vater. Ich zwinge mich, ruhig zu denken. Ins Pflegeheim will sie nicht. Nachhause gehen kann sie nicht. Bleibt nur eine Möglichkeit: Sie muss zu uns. Nein, hat mein Mann gesagt, das kommt nicht in Frage. Sie oder ich. Wenn du sie holst, bin ich weg. Ich weiß, dass er es ernst meint. Also was? Wenn ich eine Pflegerin organisiere, die täglich ins Haus kommt? Keine wird lange bleiben. Keine wird es bei ihr aushalten.

      Und immer sagt sie, die anderen haben Schuld. Sie ist bitter. Sie ist eine zu kurz Gekommene. Sie war ein uneheliches Kind von einem belgischen Kriegsgefangenen, den sie nie gesehen hat. Die Grippe-Epidemie wütete. Das war 1918, und sie war ein Baby. Auch sie erkrankte und schlief vier Wochen lang. Hinterher sagte man: Ach, wärst du nur gestorben. Ihre Mutter bekam noch ein Kind, ein eheliches diesmal. Sie selber lernte Hauswirtschaft und ging in Stellung. Als sie den ersten Lohn bekam, erschien ihr Bruder. Deine Leute brauchen das Geld für die Sau, die krank ist. Die Opernsängerin, bei der sie arbeitete, hat gesagt: Aber neue Schuhe könntest du dir anschaffen. Es wird bald kalt. Doch das Geld war weg. Für die Sau. So war das, Margarete, sagt sie bitter. Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Ich schlucke und fühle mich schuldig.

      Das kleine Mädchen wacht auf und schaut mit großen Augen um sich. Es fragt, ob es die kleine Leuchte über dem Sitz anmachen darf, und die Mutter nickt. Sie lächelt mich an. Ganz weich und ohne Arg. Das Mädchen krabbelt auf ihren Schoß, und sie legt die Arme um den kleinen Körper. Geborgen schmiegt es sich an die Brust der Mutter. Ich kann meinen Blick kaum von beiden wenden. So etwas gibt es also, denke ich. Für mich ist das eine Offenbarung, nichts mehr und nichts weniger. Ich habe das seltsame Gefühl, dass sich meine Konturen auflösen. Dass ich zu Luft werde. Gottseidank nur kurz, einen schwebenden Augenblick lang. Jetzt bin ich wieder ich selber, und ich schaue aus dem Fenster, bemühe mich, nicht das Spiegelbild der beiden zu sehen, sondern die dunkle Landschaft draußen, über der nun die schmale Sichel des Mondes hängt. Ich versuche, an etwas zu denken, das meiner Mutter Freude gemacht hat. Der Himmel, fällt mir ein. Sie hat gern den Himmel angesehen. Die tintigen Wolken vor einem Gewitter, das endlose Blau an einem Sommertag. Das besonders. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt. Das ist schön, hat sie gesagt. Man denkt, man kann fliegen. Doch sie war schnell wieder auf dem Boden. Hat gesagt, der Garten ist voller Unkraut, ich muss mich ans Werk machen.

      Ich sehe auf die Uhr. Da läutet das Telefon. Meine Mutter weint. Hol mich hier raus, flüstert sie. Ich sage: Du musst durchhalten, Mutter. Es wird dir bald besser gehen, und dann kannst du wieder nach Hause. Ich muss in den Garten, sagt sie. Keiner macht die Arbeit, wenn ich weg bin! Daran darfst du jetzt nicht denken, sage ich. Aber natürlich hört sie mir nicht zu. Nie kommt die Schwester, wenn man sie ruft, sagt sie anklagend. Ich klingle dauernd, und meinst du, sie halten es für nötig und kommen? Sie sitzen sicher in der Küche und trinken Tee. Und ich muss auf die Toilette. Du musst die Bettpfanne benutzen, sage ich. Niemals!, ruft sie. Ich kann aufs Klo! Nun fall du mir auch noch in den Rücken! Der Arzt sagt, du darfst noch nicht aufstehen, sage ich besänftigend. Immer höflich, immer verständnisvoll. Papperlapapp!, sagt sie. Ich frage mich, ob ich jemals gegen sie aufbegehrt habe. In der Pubertät? Nein. Ich habe immer nach Kompromissen gesucht. Mein Mann sagt, du lässt dir auf dem Kopf rumtrampeln. Ich bin bald bei dir, sage ich tröstend. Meine Mutter schweigt. Mutter? Ich habe nie Mama gesagt. Das fand sie primitiv. Und sie sagte nie Gretl. Oder Grete. Auch mein Mann sagt immer Margarete. Hat mein Schätzchen Hunger?, sagt die Mutter zu dem kleinen Mädchen. Es schaut mich auf eine Art an, dass ich wegsehen muss. So unverwandt, so tief in meine Seele hinein. Schau da nicht hin, denke ich. Da ist nichts. Meine Mutter hat aufgelegt.

      Die Frau hat zwei Brötchen ausgepackt, und die beiden essen. Nachhause kann meine Mutter nicht. Ins Pflegeheim will sie nicht. Im Krankenhaus bleiben für immer wird sie nicht. Sie muss zu uns. In meinem Kopf dreht sich ein Mühlstein. Sie muss zu uns nachhause. Aber das will mein Mann nicht. Sie oder ich, sagt er. Ich sehe auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Das kleine Mädchen kaut. Draußen blitzen Lichter, und es werden immer mehr. Nachhause kann sie nicht. Ins Pflegeheim will sie nicht. Zu uns darf sie nicht. Mein Mann hat recht. Hat mein Mann recht? Sie wird nicht wieder gesund. Schnell sterben wird sie nicht. Ich kenne sie. Sie ist zäh. Da fällt mir ein: Sie hat vergessen, nach meiner Katze zu fragen. Es scheint ihr wirklich schlecht zu gehen.

      Draußen: ein Lichtermeer. Der Zug wird langsamer, und die Mutter packt das Papier weg, steht auf, holt das Gepäck aus dem Netz. Wenn sie alt ist, was wird dann sein? Wird das kleine Mädchen sich um sie kümmern? Wird es einen Mann haben, der sagt, sie oder ich? Auch ich erhebe mich langsam. Streiche meinen Rock gerade. Meinen Faltenrock, dunkelblau. Im Fenster sehe ich, wie gebückt ich dastehe. Ich versuche, die Schultern zu straffen, aber wie von allein sacken sie wieder nach vom. Ich bin fünfundfünfzig. Kein Alter. Und ich habe keine Tochter. Aber ich habe einen Mann, der mich im Pflegeheim besuchen wird. Zumindest ist das anzunehmen. Das ist doch ein Trost, oder nicht?

      Der Zug fährt mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof ein. Ich sehe Plakattafeln, Bänke, einen Kiosk. Ob es dort schwarzen Kaffee gibt? Ich stelle mir vor, wie das heiße Getränk durch meine Kehle rinnt. Ich nehme mein Handy und stelle es ab. Langsam steige ich aus. Langsam gehe ich auf den Kiosk zu. Der Kaffee ist heiß und süß und gut. Ich sehe auf die Uhr, dann auf die Tafel, wo die Züge angekündigt werden. Die Zahlen verschwimmen vor meinem Blick, werden wieder klar. In einer halben Stunde fährt ein Zug dahin, woher ich gekommen bin. Ich habe noch etwas Zeit, und ich kaufe mir ein Brötchen und esse es, und die Sauce rinnt an meinem Kinn herunter. Dann fahre ich mit der Rolltreppe in die Unterführung, laufe durch den dunklen Gang, in dem es nach Urin riecht, wie im Haus meiner Mutter, dem großen, stillen, leeren Haus, fahre eine andere Rolltreppe wieder hoch. Die Tüte mit den Plastikdosen werfe ich in den Müll. Der Zug wartet schon. Warm ist es im Abteil, sehr angenehm, und der Sitz aus rotem Plüsch ist weich. Der Zug fährt mit einem Ruck los, einem Ruck, der durch mich hindurchgeht. Ich sehe auf die Uhr. Noch vier Stunden. Vier Stunden, die mir gehören. Nur mir allein.

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