Название: Fahlmann
Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Жанр: Современная зарубежная литература
isbn: 9783954620906
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«Ein Selbstwähltelephonamt?»
«Man kann dort seine Ortsgespräche selbst wählen.»
«Na», Hennig versuchte beeindruckt zu klingen, «die Heimat hat für uns verlorene Söhne sicherlich noch einige Überraschungen in der Hinterhand. Aber warten Sie erst einmal ab, bis wir Ihr neues Zuhause erreicht haben! Sie werden erstaunt sein, Doktor Bahlow! Der Urwald um Lindi täuscht. Bald beginnt die Obstgartensteppe, und außer dem hohen, dichten Gras und dem Bambus wird die Landschaft keinen sonderlich tropischen Eindruck mehr machen. Lichter Waldbestand, dünne Stämme, alles recht kümmerlich, aber für die Grabungsarbeiten durchaus von Vorteil. Der Name ‹Obstgartensteppe› ist überaus bezeichnend für diese Vegetationsform. Nur vereinzelt ragt eine Akazie oder eine Borassuspalme über die übrigen Wipfel empor, und nur selten verdichtet sich das Pflanzenkleid in einer kaum wahrnehmbaren Mulde zu zusammenhängendem Gebüsch oder Bambusgestrüpp.» Bahlow hörte aufmerksam zu und dachte in einem Anflug von Rührung daran, dass Hennig seine Braut «Mausebärchen» nannte. Kurz darauf fielen ihm die «Schreckens-Echsen» ein, er gluckste verhalten, zügelte aber auch weiterhin das Verlangen, sein Wissen preiszugeben oder von Bilderbeck und dem überdimensionalen Nussknacker zu erzählen, ein Bedürfnis, das merkwürdigerweise die Atmosphäre heiterer Aufgeräumtheit begünstigte, in der die beiden Männer nebeneinander einherschritten. «Die Eingeborenen», erzählte Hennig, «unterscheiden hier drei für das praktische Durchkommen verschiedene Vegetationsformen: yangwa = offene Grassteppe oder auch lichter Hochwald, mwitu = dichter, meist undurchdringlicher Busch oder Dornbusch und pori, das zwischen beiden die Mitte hält, also etwa Baumgrassteppe oder wie hier: Obstgartensteppe.»
Diese Unterscheidung der Vegetationsformen schien Bahlows eigenen Lebensweg widerzuspiegeln: Alles hatte mit der yangwa einer sorglosen Kindheit begonnen, dann durchstachen erste Barthaare die Oberlippe, Vorboten des grässlichen pori, und einige Jahre später mündete der ganze Schlamassel im Garten des von Herderschen Anwesens in eine undurchdringliche mwitu, zu der auch dieses Dornengestrüpp der Geheimnistuerei zu gehören schien, in das ihn erst Kuider in Marseille, dann Bilderbeck in Lindi gestoßen hatten. Einen verschwundenen Mann suchen! Beobachten! Berichten! Wem sollte er denn Berichte schicken? Der Firma nach Dresden-Blasewitz? Zu Händen von Herrn Kuider? Aber der hatte nicht gerade den Eindruck erweckt, für die Firma zu arbeiten. Und auch Bilderbeck arbeitete wohl kaum für die Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas. Aber für wen dann? Für jemanden, der sich als Otto Staudinger ausgab? Selbst die Spatzen pfiffen es von den Dächern, dass der 1830 geborene Mitverfasser des Catalogs der Lepidopteren des palaearctischen Faunengebietes vor zehn Jahren verstorben war! Oder doch nicht? Bahlow kam ein ungeheuerlicher Verdacht, und er musste kurz stehen bleiben, ehe er die Kraft hatte, weiterzugehen. Ob man die Seiten seines Lebens zwischen den zerfledderten Umschlag eines Groschenheftes geklemmt hatte, damit er als Nick Carter dem berüchtigten Verbrecherkönig Carruthers im Todesdschungel Deutsch-Ostafrikas das Handwerk legte? Mit der kleinen Einschränkung allerdings, dass sein Carruthers Valdsky hieß und seit vier Monaten verschollen war. Dem Dossier waren Photographien beigefügt. Auf jeder sieht der hagere Missionar mit den eingefallenen Wangen und der prachtvollen Hakennase am unbekannten Photographen vorbei und lächelt unglücklich den Daumen des Betrachters an.
Mit einem Mal begriff Bahlow, wieso ihm Bilderbeck Valdskys Sherry aufgenötigt hatte: Nur so konnte der Verschwundene den Suchenden entlohnen, noch bevor dieser die Suche aufnahm. In genau jenem Augenblick, als Bahlow den ersten Schluck von Valdskys Sherry getrunken hatte, war er zu einem Teil von Valdsky geworden – und Valdsky zu einem Teil von ihm. Valdsky hatte ihn also, obwohl er abwesend war, mit dem trockenen, weißen Sherry getauft. Bahlow nahm sich vor, den ersten Bericht mit einer scharfsinnigen Analyse dieser Theorie zu beschließen, der Pfad machte einen scharfen Knick und schleuderte seine Gedanken in eine andere Richtung. Viehzeug. Raschelnd. Zwitschernd. Bahlow erkundigte sich nach der hiesigen Tierwelt, zu der, wie sich herausstellte, Elephanten (törö), Flusspferde (selten), Nashörner (gefährlich), Riesenkatzen (haha, Riesenkatzen!), Giraffen (Bahlow merkte an, wie sehr er sich darauf freue, diese Bierlaune Gottes leibhaftig zu sehen) und Vögel gehörten, wunderbare Vögel! «Dieser ungeheure Farbenglanz der Vogelwelt!», rief Hennig aus. Sehr unangenehm dagegen seien die Schlangen. «Kürzlich spielte sich in Doktor Janenschs Hütte die nächtliche Jagd zwischen einer Schlange und einem Frosch ab, wobei es dem Frosch nur durch ein beherztes Einschreiten Janenschs gelang, mit dem Leben davonzukommen. Einmal lauerte auf der Schwelle unseres Pavillons eine Puffotter. Lachen Sie nur! Sie werden früh genug erfahren, wie wenig ich spaße! Und fast täglich finden wir in den Hütten der Arbeiter Speischlangen, eine Spezies, die es versteht, ihr Gift schon aus gewisser Entfernung dem vermeintlichen Feind ins Auge zu schleudern. Doch kommen wir zu den Insekten.» Bahlow zwang sich, aufmerksam zuzuhören. «Skorpione, Hundertfüßer, Termiten, Beißameisen, Heuschrecken und enorme Raupen gibt es am Tendaguru in Hülle und Fülle, doch mit der Zeit gewöhnt man sich an alles, sogar daran, dass man regelmäßig Stinkwanzen als Buchzeichen findet, im Rockärmel, im Teewasser und Motten in der Suppe und Termiten an den Ledergamaschen und Schlupfwespen im Zelt und Ameisen im Bett und Kakerlaken in den Koffern. Weitere Plagegeister aufzuzählen, verbietet mir der gute Ton. Aber das ist nur ein Tropfen auf den sprichwörtlichen heißen Stein im Vergleich zu der Asselplage, an der Cook auf seiner dritten und letzten großen Fahrt litt. Die Asseln fraßen die Vorräte, nagten Löcher in die Segel, zerfransten das Tauwerk, ja, die Asseln fraßen sogar die Tinte von Cooks Aufzeichnungen …»
Unterdessen hatte die Karawane ihren Weg nordwärts an der Bucht entlanggenommen und überstieg nun (etwa in der Linie der Telegraphenleitung) die sich eng an die Küste schmiegende Mauer des lehmigen Kitulo-Rückens. Redete Hennig nicht, pfiff er vor sich hin, unbekümmert und falsch wie ein Kind. Überall krabbelte es, summte es, saß im Gras, putzte sich die Fühler, huschte hierhin, flog dorthin, Bahlow konnte kaum erwarten, den Lichtselbstfänger aufzustellen, der in der Reisekiste jede Unebenheit des Weges mit vorwurfsvollem Geklirre kommentierte. Hoffentlich erzählte die Kleine niemandem, dass er sie berührt hatte. Aber Bilderbeck musste ihn ja mit Valdskys Sherry betrunken machen! Ob es wohl an dieser Taufe liegt, dass es mir nicht vergönnt ist, in mein afrikanisches Abenteuer einzutauchen wie in einen Badezuber heißen Wassers, um nach Herzenslust darin herumzuplantschen? Bahlows Schritte verloren die Selbstsicherheit, unter seinem rechten Auge begann ein Muskel zu zucken, er brauchte Abstand, um kritisch beobachten zu können, schonungslosen Abstand zu der dicklichen nassgeschwitzten Person, die mit offenem Mund den Ausführungen eines jungen Schwärmers folgte. «Wie ein Käferlein am Boden eines Kornfeldes, so zieht der Mensch durch diese Wäldermassen, ohne Kenntnis dessen, was ihn umgibt, ohne die Möglichkeit, sich einen Überblick zu verschaffen, ohne auch nur die allernächste Umgebung beim Marsche überblicken, ja zur Zeit der Grasherrschaft oft selbst ohne den Boden unter den Füßen sehen zu können.» Hennig ließ noch mehrere solcher wohlformulierten oder auswendiggelernten Sentenzen vom Stapel, bis sie nach einigen, schier endlosen Marschstunden ihr Lager in Yangwani aufschlugen und die weite Talaue, die sich zwischen dem Kitulo und den dahinter gelegenen höheren Plateaus des Lindi-Hinterlandes erstreckte, mit ihren hellgrauen Zelten überzogen.
Um sich die Zeit bis zum Abendessen zu vertreiben, schlug Hennig Schießübungen auf Sodaflaschen vor, derweil sich die Träger mit Ringkämpfen oder Musik unterhielten, wobei besonders der Gesang der Wangoni, eines überaus musikalischen Zulustammes, wie Bahlow ungefragt erfuhr, den europäischen Ohren zusagte. Bahlow warf Hennigs Boy das Gewehr zu, dieser lud es, reichte es Hennig, und eine Sodaflasche zerspritzte zu einem Regenbogen aus Glas. «Guter Schuss!», meinte der glücklose Bahlow. Beiläufig: «Was wurde eigentlich aus diesem … ähm … Missionar?»
Hennigs Boy lud das Gewehr und reichte es dem Entomologen.
«Sie meinen Valdsky? Er ist verschollen. Wahrscheinlich tot. Als er verschwand, hielt ich mich, wenn ich mich recht entsinne, in Lindi auf, und als ich zum Lager zurückkehrte, war er nicht mehr da, was jedoch, um ehrlich zu sein, niemanden СКАЧАТЬ