Название: Fahlmann
Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Жанр: Современная зарубежная литература
isbn: 9783954620906
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«Wie wer oder was?», fragte Winkler. Vor Schreck vergaß ich, was ich hatte sagen wollen, und verkroch mich in einem selten gelüfteten Winkel meines Kopfs unter einem Treppenabsatz. Fassen wir zusammen: Winkler hielt Achim «für zu blöd, um sich mit ihm ernsthaft zu unterhalten»; Achim hielt Winkler für einen «billigen Aufschneider», doch hier trübten wohl Neid und Missgunst seinen Blick, denn Winkler war ein großer Aufschneider, ein Meister der Täuschung und der Selbststilisierung. Als ich ihn beispielsweise fragte, wieso ein Verein, der sich dem Andenken Sherlock Holmes’ widmet, den kryptischen Namen Von Herder Airguns Ltd. trage, zog Winkler sich nicht nur elegant aus der Schlinge, sondern verwandelte diese gleichzeitig in eine engmaschige, köcherähnliche Knüpfarbeit. Um seine zentrale These zu rekonstruieren und sie, was ich mir schon vor langer Zeit vorgenommen habe, eingehend zu prüfen, steht mir zum Glück ein englischsprachiger Sherlock-Holmes-Sammelband aus der bemerkenswert gut bestückten Hotelbibliothek zur Verfügung. Beginnen wir mit den Airguns. In der Erzählung The Final Problem heißt es:
«You are afraid of something?» I asked.
«Well, I am.»
«Of what?»
«Of air-guns.»
«My dear Holmes, what do you mean?» (469 f)
Holmes fürchtet, von seinem Widersacher Professor Moriarty ermordet zu werden, aber weshalb der Detektiv solche Angst vor air-guns hat, wird in The Final Problem nicht geklärt, denn hier stürzt er, Moriarty (Hoppla! Fast hätte ich Marsitzky geschrieben!) umklammernd, in einen awful abyss (near the fall of Reichenbach), und zwo, drei, vier, vergehen die Jahre, bis Doyle auf die hartnäckigen und zunehmend verzweifelter werdenden Proteste seiner treuen, zutiefst betrübten Leserschaft reagiert und seinen verstorbenen Helden wiederauferstehen lässt:
«Holmes!» I cried. «Is it really you? Can it indeed be that you are alive? Is it possible that you succeeded in climbing out of that awful abyss?» (486)
Holmes, erfährt Watson bass erstaunt in The Adventure of the Empty House, täuschte seinen Tod lediglich vor, um seine Feinde in die Irre zu führen. Schnitt. Baker Street 221 B, Außen, Nacht. Unser lieber Watson erblickt hinter einem erleuchteten Fenster ein so lebensechtes Holmes-Modell, dass er seinen glucksenden Freund berühren muss, weil er einer Sinnestäuschung zu erliegen glaubt:
«Good heavens!» I cried. «It is marvellous.» (489)
Eine Büste ist’s, die unseren Freund so erfolgreich täuschte, eine Wachsbüste, angefertigt von Monsieur Oscar Meunier aus Grenoble. Meiner Meinung nach ein bemitleidenswert schlecht ausgedachter Name. Wieso nennt ihn Doyle nicht Meunier Oscar Monsieur? Oder schlicht und ergreifend Monsieur Monsieur? Und was macht die gute Mrs. Hudson? Sie bringt die Wachsbüste alle Viertelstunde in eine neue Position, denn Holmes weiß, mit welch listigen und ausgekochten Gesellen er es heuer in London zu tun hat. Da! Eine Gestalt! Sehr böse! Ein Schuss! Ein SchuSS – dramatischer Trommelwirbel – aus einem LuftGeWehr! Pressluftfanfare, splitterndes Glas, und prompt zieht Holmes den Schuldigen aus seiner Pfeife: Niemand anderen als Colonel Sebastian Moran, den zweitgefährlichsten Mann Londons. Und diese Waffe? Holmes, seien Sie vorsichtig! Grundgütiger Himmel, diese gefährliche Waffe!
«An admirable and unique weapon (…), noiseless and of tremendous power: I knew Von Herder, the blind German mechanic, who constructed it to the order of the late Professor Moriarty. For years I have been aware of its existence, though I have never before had the opportunity of handling it.» (493)
Über die Seiten des Buchs, aus dem ich mit ungezügeltem Genuss zitiere, schwebt ein sepiafarbenes Bild: Inmitten malerischer Nebelschlieren kniet Holmes vor Lestrade und überreicht ihm im Schein einer Londoner Straßenlaterne das Luftgewehr, als wollte er damit den Ritterschlag empfangen. Watson, der auffallend Pu dem Bären ähnelt, nimmt in rührender Erleichterung einen großen Topf Honig aus seinem Arzttäschchen, während der trottelige Lestrade (gespielt von einem zu Hochform auflaufenden Peter Sellers) seinen Zeigefinger nicht mehr aus dem Lauf der vermaledeiten Büchse kriegt. «Mein lieber Lestrade, ich würde Ihnen gerne mit einem Pfund Butter aus meinen eigenen Vorräten aushelfen, um Ihren so misslich verklemmten Finger aus der stählernen von Herderschen Umklammerung zu befreien, hätte sich die gute Mrs. Hudson nicht damit ihre Knie eingerieben, um sich der bemerkenswert naturgetreuen Büste am Fenster meines Zimmers mit behutsamsten Rutschbewegungen nähern zu können, ohne von der Straße aus entdeckt zu werden. Oh, sehen Sie nur, die Büste hat sich wieder bewegt! Watson, gehen Sie doch bitte hinauf und richten Sie der treuen Seele aus, dass der Fall abgeschlossen ist!» Ich komme vom Kurs ab. Die These! Die zentrale These! Her mit der zentralen These! Winkler hatte damals behauptet: «Doyle wollte Sherlock Holmes nie sterben lassen! Bereits in The Final Problem hat er alle Weichen für ein Fortleben seines Helden gestellt. Bei der abstrusen Bemerkung über Luftgewehre handelt es sich um nichts anderes als ein perfekt funktionierendes, gut geöltes Hintertürchen.» Ich sehe, wie ein zufriedener Holmes Inspektor Lestrade «the famous air-gun of Von Herder» (496) für das Scotland Yard Museum übergibt. «Soweit, so gut», sagte ich. «Aber ich verstehe nicht ganz, wieso ein Holmes-Club den Namen einer potentiellen Holmes-Mordwaffe trägt?» Winkler sah mich an, als hätte ich wissen wollen, was ein Hühnerei ist. «Holmes kann nur getötet werden, wenn er lebt», sagte er, «und somit feiert der Name Von Herder Airguns Ltd. Holmes’ Wiederauferstehung.» – «Aber der Schuss galt doch einer Attrappe.» Winkler zuckte die Achseln und sagte abfällig, ich sähe das zu eng.
Ich glaubte ihm nicht, dass es einen Verein namens Von Herder Airguns Ltd. gab, und bezweifele es noch heute. Vereine heißen «International Bond Community» oder «Pater Brown Fanclub Boblingen», notierte ich, glaube ich, am Vormittag nach der Lesung. Der Name «Von Herder Airguns Ltd.» ist einfach zu gut! Ich klappte das Notizbuch zu und nahm mir vor, irgendwann einmal nachzuprüfen, ob bei Doyle überhaupt Luftgewehre und Wachsbüsten vorkamen. Inzwischen hatte die wütende Intensität des Regens nachgelassen, und weil die Thermoskanne fast leer war, ging ich, schwipp-schwapp, eine halbvolle Tasse in der Hand, geradeaus schauen, alter Trick, klappt immer, nach oben. Am Schreibtisch erwarteten mich die üblichen Probleme. Niemand kaufte mir Außerirdische ab. Also musste ich ihr Auftreten so lange wie möglich hinauszögern. Bei Außerirdischen sahen alle rot. In den buchlosen Zeiten vor Marsitzky hatte mir mal ein Lektor, dem ich Erzählungen geschickt hatte, empfohlen: «Schreiben Sie doch mal einen historischen Roman!» Ich entgegnete erstaunlich schlagfertig: «In meinen Augen ist ein Roman über das alte Rom genauso phantastisch wie ein Roman über eine Superzivilisation von Methanatmern auf dem Bruzzmond Öbel IV.» Nein, das stimmt nicht. Ich entgegnete nichts. Diese schlagfertige Antwort fiel mir erst später ein. Nein, das stimmt auch nicht. Die Antwort fiel mir eben ein. Weiter! Dachboden, Dachboden, diesmal würde ich alle an der Nase herumführen. Schreiben, schreiben, ich muss schreiben, ein Klopfen: Jens, schon heimgekehrt aus der Schule, beendete meine erfolglose Jagd nach dem ersten Wort, indem er mir einen Brief in die Hand drückte, den Onkel Jörg in seinem Briefkasten gefunden hatte:
Lieber Herr Fahlmann!
Vielen herzlichen Dank für Ihre Texte «erste worte», «letzte worte».
Ich muss sagen, dass sie mir nicht nur ausgesprochen gut gefallen haben, sondern dass sie auch ausgezeichnet dem angedachten Konzept unserer kleinen Anthologie entsprechen. Ich ziehe sogar in Erwägung, Ihre wundersam autopoetische Zeile «oben am jong bösch» zum Titel des Bandes zu machen. Da dies ja auch in Ihrem Interesse liegen dürfte, gehe ich davon aus, dass Sie mit dieser Entscheidung mehr als nur einverstanden sind.
Ich habe mich sehr gefreut, so bald und so niveauvoll von Ihnen zu hören, und verbleibe mit freundlichen Grüßen aus Frankfurt