Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel
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Название: Jahrgang 1936 – weiblich

Автор: Barbara Schaeffer-Hegel

Издательство: Автор

Жанр: Биографии и Мемуары

Серия:

isbn: 9783826080616

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СКАЧАТЬ Rest meiner Kindheit verbrachte. Die Konsul-Übele-Straße blieb mir vor allem wegen der Ausflüge aufs Dach in Erinnerung. Sie war aber auch deshalb bemerkenswert, weil ich dort meine ersten eigenen Schuhe bekam. Keine, die mein Bruder Peter schon getragen hatte, sondern ein Paar ganz neue, aus Autoreifen geschnittene Sandalen, die mit dicken Schnüren zum Festbinden versehen waren. Und ich hatte dort, obwohl noch keine 10 Jahre alt, meinen ersten Anfall von Weiblichkeitswahn. Ich schob mir zwei mit Stoffresten gefüllte kugelrunde Netze, die Art Ball, mit dem wir Kinder damals spielten, unter mein enges Sommerhemd und flanierte mit falschem Busen und stolz erhobenem Kopf die ziemlich lange Konsul-Übele-Straße hinunter. Bis mir, just in dem Moment, als mir ein Junge, den ich kannte, entgegenkam, einer der Bälle aus dem Hemd rutschte und zu Boden fiel.

      Erst in der Alten Amrichshäuser Straße 17, im Haus von Frau Kurtz, fand ich mein endgültiges Zuhause. Das alte Haus mit dem Holzbalkon zur Straßenseite gehörte zu den wenigen Häusern, die in den zwanziger Jahren auf der Westseite des Flusses weit außerhalb des Stadtkerns gebaut worden waren, die aber jetzt, nachdem sich das Städtchen in alle vier Himmelsrichtungen, das Tal hinauf und hinunter, und weit auf die umliegenden Anhöhen hinauf ausgedehnt hatte, zum alten Stadtteil Künzelsaus gehörten. Frau Kurtz war eine alte Dame ohne Familie. Das Haus mit dem großen Gemüsegarten vor und dem Obstgarten hinter dem Haus war ihr ein und alles. Es war in Hanglage gebaut und bestand demzufolge auf der Vorderseite aus drei, auf der Obstgartenseite nach hinten hinaus aus nur zwei Etagen.

      Alte Amrichshäuser Straße 17.

      Obwohl als Einfamilienhaus erbaut, hatten jetzt, kurz nach Kriegsende, insgesamt 5 Partien im Haus von Frau Kurtz Unterkunft gefunden. Zwei Familien mit Kindern, ein Ehepaar und zwei alleinstehende ältere Damen. Eine pensionierte Bibliothekarin und Frau Kurtz selbst bewohnten im ersten Stock, der Bel Etage, die zwei vorderen Zimmer mit Balkon. Im Zimmer daneben, das nach hinten hinausging und neben einem altmodischen Bad mit Holzofenboiler und einer Küche mit Kohleherd lag, wohnte ein aus Schlesien vertriebenes Ehepaar, Herr und Frau Ascherl, die noch immer auf der Suche nach ihrem einzigen Sohn waren, der in den letzten Kriegsmonaten an die Ostfront eingezogen worden war, und von dem die Eltern seither nichts gehört hatten.

      Meine Familie bewohnte im Oberstock eine Küche und dreieinhalb Zimmer: Mutters Arbeits- und Schlafzimmer, ein Wohn- und Esszimmer, ein Schlafzimmer für die Kinder und ein kleines Zimmerchen, in das gerade mal ein Bett für Rosel, die „gute Seele“ unserer Familie, und ein schmaler Schrank für ihre Kleider passten. Waschen musste man sich in der Küche. Mit Rosel waren wir fünf. Meine Mutter, mein Bruder Peter, mein Bruder Jochen, Rosel und ich. Und auch später, als mein älterer Bruder für die gymnasiale Oberstufe in die Klosterschulen des württembergischen Landexamens nach Maulbronn und Blaubeuren ins Internat geschickt wurde, waren wir wieder fünf. Nachdem ein Bett im Kinderzimmer frei wurde, kam Poldi zu uns. Meine Mutter hatte ihn, der in die erste Klasse der Oberschule ging, als Pflegekind aufgenommen.

      Poldis Mutter war 1946 mit einem amerikanischen Offizier nach USA entwichen. Möglicherweise in der Annahme, dass ihr Mann, Poldis Vater, nicht mehr vom Krieg zurückkommen würde. Doch Poldis Vater kam zurück. Fast zwei Jahre später und nachdem er lange nach seiner Frau und seinen beiden Söhnen gesucht hatte. Er fand Poldi und seinen Bruder Eberhard schließlich in Hohenlohe, in einem kleinen Dorf nahe Dörrenzimmern, in der Obhut seiner Eltern. Tief getroffen vom Verrat seiner Frau kehrte der Vater auf der Suche nach einem beruflichen Neuanfang in seine Heimatstadt Dresden zurück, obwohl ihn alle Freunde und vor allem seine Eltern dringend davor gewarnt hatten, sich in das Herrschaftsgebiet der Sowjets zu begeben. Ich habe nie erfahren, was Poldis Vater im Krieg und unter der Naziherrschaft gemacht hatte – ich weiß nur, dass man, nachdem er in Dresden angekommen war, nie wieder von ihm gehört hat und dass alle Versuche, ihn zu finden, umsonst blieben. Seine Kinder lebten bei den Großeltern, und da es in ihrem Dorf keine weiterführende Schule gab, suchten und fanden sie in Künzelsau Pflegefamilien, in denen ihre beiden Enkel während der Schulzeit unterkommen konnten. Eine dieser Familien waren wir. Ich mochte Poldi sehr. Ein weiterer kleiner Bruder, der so anhänglich, so liebebedürftig und selbst so liebevoll war – das war ein großes Geschenk.

      Und dann gab es natürlich Rosel. Rosel, ein Flüchtlingsmädchen aus Schlesien, war erst siebzehn Jahre alt, als sie zu uns kam. Sie blieb bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr in unserer Familie. Damals, als Rosel noch neu bei uns war, hatte sie einen Freund, den sie, wie sie mir einmal gestand, sehr liebte. Aber sie wollte so jung noch nicht heiraten. Sie musste sich doch erst eine Aussteuer zusammensparen. Der Freund wollte aber nicht warten, verließ Künzelsau und heiratete eine andere. Trotz einer ganzen Anzahl von Verehrern, die heftig um Rosel warben, konnte sie sich für keinen anderen Mann entscheiden. Und dann, nach über zehn Jahren, hielt eines Abends ein Motorrad vor der Alten Amrichshäuser Straße Nr. 17. Rosels Jugendliebe! Seine Ehe war gescheitert, ob Rosel ihm verzeihen könne. Sie konnte und zog mit ihm nach Norden. Für mich war Rosel eine warme Freundin und Trösterin gewesen. Sie blieb mir und meiner Familie bis zu ihrem Tod im Jahre 2004 eng verbunden. Für die Mutter war Rosel eine unersetzliche Hilfe. Sie brachte der „Frau Doktor“, wie Rosel meine Mutter nannte, grenzenlosen Respekt entgegen. Obwohl meine Mutter doch gar keinen Doktortitel besaß. Den Titel hatte sie, wie das zu ihrer Zeit üblich war, mit meinem Vater geheiratet.

      Mit Hilfe von Rosels landwirtschaftlichen Kenntnissen wurde unser Speisezettel bald kostengünstig angereichert. Frau Kurtz hatte uns im vorderen Garten fast die Hälfte der Nutzbeete überlassen. Auf denen nun Tomaten und Salat, Kohlrabi, Bohnen und Erdbeeren angepflanzt wurden. Und auf dem schmalen, links neben dem Haus gelegenen Rasenstreifen durften wir Hühner halten. Aus alten Brettern und Holzresten zimmerte mein Bruder mithilfe von Herrn Wüster, der im Souterrain wohnte, einen Hühnerstall und umgab ein etwa fünf mal sechs m² großes Rasenstück mit einem Zaun aus Maschendraht, damites den Hühnern – zwei weißen Leghornhennen, drei schwarzen Blesshühnern und einem bunten Gockelhahn – als Auslauf dienen konnte. Im unteren Teil des Obstgartens, der hinter dem Haus bis zur Neuen Amrichshäuser Straße anstieg, konnten meine Brüder und ich Hasen halten. Jedes der Kinder hatte einen eigenen Stall mit ein oder zwei Stallhasen – Deutsche Silber, Blaue Wiener oder Angorakaninchen –, für die wir jeweils allein zuständig waren. Wir mussten die Kaninchen füttern, den Stall ausmisten und, wenn es Junge gab, für besondere Streu und besondere Nahrung sorgen. Wenn es ans Schlachten ging, was unausweichlich anstand, gab es vor allem bei mir tränenreichen Protest.

      Aber meine Mutter hatte noch weitere, sehr nützliche Ressourcen für uns erschlossen. An jedem Samstag gingen sie, mein älterer Bruder Peter und später auch ich selbst in eines der umliegenden Dörfer, um dort bei den Bauern Butter und Milch und Mehl zu kaufen. Trotz der nicht ganz unbedeutenden Ernte an Gemüsen und Obst, die wir aus unserem Garten bezogen, reichte das, was man in der Stadt im Laden kaufen konnte, nicht aus, um uns alle – Mutter, Rosel, die beiden Brüder, und mich – satt zu kriegen. Und Mutter kannte die meisten Bauern aus den Dörfern der Umgebung. Sie waren alle bei ihr im Kurs gewesen. Als es nach dem Ende des Krieges in der Schule keinen Unterricht mehr gab und Mutter keine Stelle und daher auch kein Einkommen mehr hatte, bot sie Englischkurse für Erwachsene an. Allabendlich um sechs Uhr in den Räumen des Kindergartens. Alle Leute, auch die Bauern, wollten damals Englisch lernen. Vor allem die Bauern. Da jetzt die Amerikaner die Herren im Land waren, wollten sie deren Sprache wenigstens so weit beherrschen, dass sie mit ihnen reden und verhandeln konnten. Mutters Kurse waren immer überfüllt und die Bauern bezahlten mit Milch und Eiern und Mehl. Manchmal auch mit einem Schinken oder mit Würsten, wenn geschlachtet worden war. Im zweiten Jahr nach dem Krieg, ließ dann allerdings der Andrang nach. Die Bauern hatten die Angst vor den fremden Eroberern verloren; es schien nicht mehr so wichtig, deren Sprache zu können. Aber unsere Mutter behielten sie in dankbarer Erinnerung. Wir durften jederzeit kommen und uns mit den in der Stadt noch immer raren Lebensmitteln versorgen.

      Familie Wüster wohnte im Souterrain. Das Souterrain hatte einen eigenen Zugang auf der rechten Seite des Hauses und bestand aus mehreren СКАЧАТЬ