Название: Jahrgang 1936 – weiblich
Автор: Barbara Schaeffer-Hegel
Издательство: Автор
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783826080616
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Doch das Jahr 1936 brachte der Welt auch ein Versprechen für die Zukunft: am 3. November 1936 wurde Frank Delano Roosevelt mit großer Mehrheit zum 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Roosevelt, der zweimal wiedergewählt wurde, ist bis heute der US-Präsident mit der längsten Amtszeit. Mit Churchill, dem das größte Verdienst anzurechnen ist, und auch mit Hilfe von Stalin hat Roosevelt wesentlich zur Bezwingung der nationalsozialistischen Katastrophe beigetragen. Bis zu seinem Tode am 12. April 1945 bestimmte Roosevelt entscheidend über das Schicksal der Welt und auch Deutschlands.
1936! Drei Jahren noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges! Nur diese knapp drei Jahre meines Lebens verbrachte ich in einem Frieden, den Hitler und seine nationalsozialistische Gefolgschaft zur Vorbereitung einer der größten Katastrophen der Geschichte nutzten – und wusste nichts davon. Vom Frieden nichts und nichts vom Krieg.
2. Kassel
Vom Krieg spürte ich, wie gesagt, nichts in unserem Kasseler Heim, einer großzügigen Wohnung mit Terrasse und Zugang zum Garten, mit Sandkasten und Spielwiese. Die erste Wohnung, an die ich mich erinnere, Weinbergstraße 33, lag in der Nähe der Villa Henschel in einer Sackgasse. Eine ideale Spielstraße. Wir hatten Freundinnen und Freunde in der Nachbarschaft; wir spielten auf der Straße, in unserem Garten, in den Gärten der Nachbarn und im Fürstengarten, einem kleinen Park, der nicht weit von unserem Haus gegenüber der Villa Henschel gelegen war und vielfältige Spielmöglichkeiten bot. Außer wenn ich dazu verdonnert wurde, in der Stube zu sitzen und Deckchen für Oma und Opa und für irgendwelche Tanten zu sticken, während meine Brüder draußen herumtoben durften, verbrachte ich meine ersten Lebensjahre überwiegend im Freien. Unsere Kinderfreundschaften waren eng und herzlich. Mit Elslein Roth, meiner ersten Freundin aus dem Haus auf der anderen Straßenseite, hielt ich noch Jahre nachdem wir getrennt worden waren, Verbindung, die dann leider mit dem Kriegsende und den großen Bevölkerungsverschiebungen in Deutschland abbrach.
Mein Vater mit meinem Bruder und mir.
Als Vierjährige verliebte ich mich zum ersten Mal. In den Freund meines Bruders Peter, in Hans Brandt. Einmal, als Peter, Hans und ich in unserem Sandkasten im Garten spielten und mein Bruder fand, dass ich das Spiel der Jungen störe, sollte ich aus dem Sandkasten verschwinden. Doch ich blieb wie festgenagelt auf der hölzernen Umrandung unseres Spielkastens sitzen. Erst nachdem mir Hans versprochen hatte, mich später zu heiraten, ließ ich die beiden Jungen in Ruhe. Und nachts wickelte ich mich genüsslich in eine rote Strickjacke, die Hans zu klein geworden war und die seine Großmutter, bei der er wohnte, meiner Mutter als Nachtjacke für mich abgetreten hatte.
Mein Bruder Jochen und ich.
Unsere Straße, die Weinbergstraße, führte nach etwa 100m stadteinwärts zwischen dem Fürstengarten und der den ganzen Hang einnehmenden Villa Henschel hindurch. Im Fürstengarten stand ich zum ersten Mal auf Skiern und fuhr als Fünfjährige einen sanft auslaufenden Abhang hinunter, der eine kaum wahrnehmbare Steigung aufwies, und an dessen Ende wir ein kleines Schneehügelchen aufgeworfen hatten. Immer geradeaus und ohne Stöcke aber mit der glücklichen Gewissheit, dass ich jetzt Skifahren könne. Was sich später, als ich an einem steileren Hang mit tieferem Schnee meinen Freunden meine sportlichen Fähigkeiten vorführen wollte, als jämmerliche Fehleinschätzung herausstellte.
Am Ende des Parks und der Henschel Villa mündete unsere Weinbergstraße in eine Fußgängerbrücke, die sich über eine unter ihr hindurchführende Schnellstraße spannte. Hinter der Brücke ging es an mehreren großen, Eindruck erheischenden Gebäuden vorbei, die früher einmal Marställe oder Stadtpaläste berühmter Edelleute gewesen sein mussten. An der Toreinfahrt eines dieser Paläste stand ich eines Tages, meinen kleinen Bruder, den mit den schorffrei glatten Knien, an der Hand, und starrte durch die Eisenstäbe hindurch. Sie verwehrten uns den Zugang zu einem großen, herrschaftlichen Hof. Auf dem Hof spielte eine Horde Kinder. Jagten sich, sprangen über Seile, rauften sich, und tummelte sich in einem riesigen Sandkasten, in welchem sie Kuchen backten und Burgen bauten. Ich konnte mich an der Schar der Kinder nicht satt sehen. Sie schienen so glücklich, so frei, so schwerelos zufrieden. Meine Mutter erklärte mir, dass dies ein „Kindergarten“ sei. Für Kinder nur, deren Eltern sich nicht um sie kümmern konnten oder sich nicht kümmern wollten. Aber ich wollte trotzdem da hinein. Musste dazu gehören, mit all diesen Kindern spielen, in dem wundervollen großen Hof, der mir der Vorgarten zu einem Palast zu sein schien.
Wie auch immer ich es erreichte, einige Zeit später marschierte ich morgens um 8:00 Uhr meinen kleinen Bruder an der Hand, und ein Brottäschchen um den Hals, in den Kindergarten und dort, da muss ich wohl schon fünf oder sechs gewesen sein, verliebte ich mich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben in ein weibliches Wesen.
Die schlossähnliche Villa Henschel, deren Gebäude man durch einen die Straße begleitenden, mannshohen Zaun aus Eisenstäben hindurch erspähen konnte, lag mitten in einem gepflegten Park, mitten auf einem mit Blumen und bunten Büschen geschmückten Rasen. Die Menschen, die in diesem „Schloss“ wohnten und die man nie zu sehen bekam, mussten Feen oder Zauberer sein, jedenfalls von einer so besonderen Art, dass man als normaler Mensch nicht mit Ihnen sprechen konnte. Und dann bekam ich im Kindergarten ein kleines, blondes, elfenhaft schönes Mädchen zu Gesicht, von der es hieß, dass sie hinter den Henschelschen Gitterstäben wohnte. Das Elfenmädchen mit den Goldhaaren und dem Puppengesicht trug ein samt-seidiges rotes Kleidchen mit gesmokten Stickereien am Halsausschnitt und an den Ärmeln, oder auch ein blaues, oder gelbes – jedenfalls trug sie ein Kleidchen so kostbar, wie ich es nie besitzen würde. Sie spielte und lachte und sang mit den Kindern an ihrem Tisch – meilenweit entfernt von dem Tisch an dem ich saß. Aber ich konnte ihr reizendes Gesicht sehen und jedes Mal, wenn ich sie anschaute, klopfte mir das Herz so sehr, dass ich wegsehen musste. Trotzdem musste ich immer wieder hinsehen, dieses Wundermädchen anstarren, um verwirrt und beschämt die Augen zu schließen und ein warmes Schwindelgefühl im Bauch zu spüren. Ich erinnere mich nicht, dass ich meine kleine Liebe je angesprochen hätte, auch kannte ich wohl nicht einmal ihren Namen. Ich wusste nur, dass sie seit kurzem in der Villa wohnte und wahrscheinlich die Tochter ausgebombter Verwandter war. Und dass es mich jeden Morgen wie magisch in den Kindergarten zog, um sie zu sehen.
Der Kindergarten verschaffte mir aber auch das erste noch ganz unverstandene Gefühl für Naziherrschaft und Krieg. Vom Krieg wussten wir Kinder nichts, auch als später mein Vater verschwand und nur noch gelegentlich für ein bis zwei Tage am Wochenende zu Besuch kam. Wir Kinder bemerkten seine Abwesenheit kaum, war er doch auch vorher tagsüber nie zu Hause, und wenn er abends nach Hause kam, waren wir Kinder meist schon im Bett. Meine Mutter brachte ihm um die Mittagszeit das Essen in Blechdosen, die dick in Zeitungspapier eingewickelt waren, in seinen Filmpalast. Einmal durfte ich meine Mutter bei ihrem Essensgang begleiten und stellte mich, während sie beim Vater im Büro war, in die geöffnete Tür des Kinosaals. Was ich da auf der Leinwand sah, war mir völlig unverständlich. Männer mit Gewehren und Stahlmützen auf dem Kopf, Feuer und Geschrei und martialische Marschmusik. Eine tiefe Männerstimme, der das alles sehr zu gefallen schien, überdröhnte die dahin rennenden Bilder, jubelte laut und macht mir Angst. Meine Mutter zog mich von den Bildern weg und sagte etwas von Wochenschau. Von Krieg sagte sie nichts.
Als der Krieg begann, war ich noch nicht drei Jahre alt. Zwar wussten wir Kinder noch immer nichts vom Krieg, aber was etwa zwei Jahre später an einem Tag im СКАЧАТЬ