Jahrgang 1936 – weiblich. Barbara Schaeffer-Hegel
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Название: Jahrgang 1936 – weiblich

Автор: Barbara Schaeffer-Hegel

Издательство: Автор

Жанр: Биографии и Мемуары

Серия:

isbn: 9783826080616

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СКАЧАТЬ kritzelte und mit unbeholfenen Strichen versuchte, den Hinterkopf meines Vordermannes aufs Papier zu bannen. Ich konnte nicht zeichnen. Neben Weitwurf war Zeichnen die Disziplin, für die ich keinerlei Begabung hatte. Der Kopf meines Vordermannes war also kaum erkenntlich, als der „Wagges“ mich ertappte und in dem Gekritzel auf dem Papier eine Karikatur seiner selbst zu entdecken glaubte. Ich konnte noch so heftig versichern, dass das, was ich da zeichnete, nicht der Lehrer, sondern unser Mitschüler Wolfgang, der „Schlauch von hinten“ sei. Herr Wagner war nicht zu erweichen und verordnete Nachsitzen. Und zwar am kommenden Dienstag. Nachmittags.

      »Dienstag geht nicht« erwiderte ich, »am Dienstag ist schulfrei; da mache ich eine Radtour mit meiner Freundin«.

      Das sei ihm völlig egal, erklärte Herr Wagner und bestand auf Dienstag. Der Einwand, dass ich dann ja nicht nur eine Stunde Nachsitzen, sondern eine viel härtere Strafe bekäme, ließ ihn ungerührt. Auch als ich am nächsten Tag vor dem Lehrerzimmer auf ihn wartete und ihn nochmals inständig um einen anderen Termin für das Nachsitzen bat. Dr. Wagner blieb eisern. Keine Chance.

      Das war am Samstag nach der dritten Stunde. Am darauffolgenden Montag stand ich, mit Schulheft, Lateinbuch und Schreibstiften ausgestattet, um 16:00 Uhr nachmittags vor der Haustüre meines Lehrers. Als auf mein Klingeln hin glücklicherweise Herr Wagner persönlich die Türe öffnete, sagt ich mit ruhiger Stimme:

      »Melde mich gehorsamst zum Nachsitzen!«

      Ob Herr Wagner nur verblüfft war, oder verärgert, oder ob er sich amüsierte, – der Lehrer ließ sich nichts anmerken. Ich meinte nur ein leichtes, nicht unbedingt bedrohliches Zucken seiner Mundwinkel zu bemerken. Er wies mir einen Platz in seiner Laube an, bezeichnete einen Absatz im Buch zur Übersetzung und Bestimmung der Verbformen, und zog sich ins Haus zurück.

      Noch immer stand ich am Fenster und dachte daran, wie ich meine Mutter damals in Schutz genommen hatte. Wie ich Herrn Wieser vor dem Lehrerzimmer abgepasst und zur Rede gestellt hatte. Dass er meine Mutter in Ruhe lassen sollte. Dass er, wenn er sich über mich ärgerte, sich bitteschön an mich wenden und nicht meine Mutter vor den Kollegen im Lehrerzimmer beschimpfen solle. Meine Mutter habe nichts damit zu tun.

      Warum musste meine Mutter ausgerechnet Lehrerin an dieser Schule sein. Nichts als Ärger hatte man davon! Jeder im Ort kannte einen und wenn man einmal etwas ausgefressen hatte, erfuhr es die Mutter sofort. Andererseits hatten die Leute auch einen gewissen Respekt vor einem. Meine Mutter war ja „Jemand“ in der Stadt. Und die meisten Leute hatten Kinder oder Enkel in der Oberschule und wollten es nicht mit meiner Mutter verderben. Aber manchmal war das nur einfach peinlich. Die Sache mit der „Hexe“ zum Beispiel, unserem Hund. Als der Großvater gestorben war und nur noch die kranke Oma und mein Vater in der Stitzenburgstraße 15 in Stuttgart wohnten, war Hexe, Opas schwarzbrauner Langhaardackel, zu uns nach Künzelsau gebracht worden. Hexe, eine nicht mehr allerjüngste Dackeldame, war nicht nur bei mir und meinen Brüdern, sondern auch bei allen Hundeherren der Umgebung außerordentlich beliebt. Weshalb sie, wenn sie ihre „Tage“ hatte, nicht zuhause im Garten bleiben durfte, während die Familie in der Schule war und nur Rosel zuhause blieb. Rosel war als Hundewächterin nicht geeignet und außerdem viel zu beschäftigt mit Putzen und Kochen und allen anderen Haushaltsdingen. Daher hatte unsere Mutter für diese Notzeiten im Lehrerzimmer ein Körbchen deponiert. Hexe konnte dort, von wechselnden Lehrern bewacht, den Schulvormittag verbringen. Morgens band Mutter die läufige Hündin mit einer langen Leine an ihrem Fahrrad fest und fuhr mit ihr zur Schule. An diesen Tagen waren ich und meine Brüder heilfroh, dass wir den Schulweg nicht mehr gemeinsam mit der Mutter absolvieren mussten. Denn diese Mutter fuhr nun auf ihrem Fahrrad die ganze lange Amrichshäuser Straße hinunter, am Fluss entlang, über die Brücke, und durch die gesamte Altstadt hindurch bis zur Schule – mit Hexe an der Leine und gefolgt von einem langen Zug liebestoller Rüden.

      Ich stand immer noch auf dem Flur vor dem Fenster. Ich solle bis zum Ende der Stunde vor der Türe stehen bleiben, hatte Mutter gesagt. Das wäre fast eine dreiviertel Stunde. Und eine halbe Stunde war schon vergangen, seit ich hier draußen stand. Ich hatte keine Uhr, aber die Turmuhr schlug jede viertel Stunde und zweimal hatte sie schon geschlagen. Ich hatte keine Lust mehr, hier Strafe zu stehen. Und außerdem war es ungerecht. Meine Mutter hätte mich zumindest anhören müssen, ehe sie sich von ihrem Sitz in der mittleren Bankreihe auf mich stürzte.

      Meine Mutter hatte die Angewohnheit, ihr erhöhtes Lehrerpult zu verlassen und sich mit dem Rücken zur Tafel in der mittleren der drei Bankreihen auf die vorderste Schulbank zu setzen. Die mittlere Bankreihe war die kürzeste, da sie Platz für die Kipptafel lassen musste. Die Schüler, die auf der ersten Bank der Fenster- oder der Wandreihe saßen, befanden sich daher immer hinter dem Rücken und damit außerhalb des Blickfeldes der Lehrerin. So auch ich. Meine Mutter konnte also gar nicht gesehen haben, ob ich geredet, oder einen Papierflieger gefaltet, oder einem Mitschüler Fratzen gezogen hatte. War es nicht schlimm genug, die eigene Mutter als Lehrerin zu haben? Letztes Jahr hatte es einmal richtig geknallt. Wegen Christiane Wechsler, dieser Sklavenseele. Aber da hatte sich meine Mutter fair verhalten. Christiane Wechsler wohnte nur ein paar Häuser weiter in der Amrichshäuser Straße. Und sie versuchte immer, sich bei meiner Mutter beliebt zu machen, indem sie ihr die schwere Schultasche mit den Korrekturheften nachhause trug. Aber das hatten wir dieser Schleimerin dann ein für alle Mal abgewöhnt. Meine Freundin Ruth und ich hatten ihr an der Brücke aufgelauert, hatten ihr Mutters Tasche aus der Hand gerissen und ihr nebenbei einige kräftige Fausthiebe versetzt. Danach musste ich Mutters Tasche zwar selber nachhause tragen, was ganz schön lästig war. Aber der Schleimerin hatten wir es gezeigt.

      Und dann, nur wenige Tage später, hüpften ich und meine Banknachbarin zwischen zwei Schulstunden in Vorfreude auf die großen Ferien auf unseren Sitzen auf und ab. Wobei der hinter uns sitzenden Christiane ein Stift aus der im Pulttisch eingekerbten Federrille rollte und zu Boden ging. Christiane hob den Stift auf und rammte ihn mit Wucht in meinen Rücken. Die sich anschließende Rauferei fand unter den anfeuernden Rufen der ganzen Klasse statt, sodass niemand bemerkte, als die Lehrerin das Klassenzimmer betrat. Meine Mutter schob die jauchzenden und grölenden Schüler beiseite, schnappte sich mein linkes und Christianes rechtes Ohrläppchen, befahl die Schüler auf ihre Bänke und zog uns beide vor die Klasse, wobei sie unsere nach unten gedrückten Köpfe fest an den Ohren hielt. Was denn hier los sei, fragte Mutter streng. Christiane heulte mit weinerlicher Stimme los: »Bärbel hat meinen Füller auf den Boden geschmissen!«. Diese Lüge konnte ich keinesfalls auf mir sitzen lassen. Ich holte mit der rechten Hand aus und verpasste der sich noch immer im festen Griff der Mutter befindenden Gegnerin eine kräftige Ohrfeige. Die Klasse johlte und klatschte und die Mutter war so perplex, dass sie uns beide losließ, auf unsere Plätze zurückschickte und uns nicht einmal eine Strafarbeit gab.

      Vielleicht war es ja das. Vielleicht hatte Christiane, diese hinterhältige Kuh, ihre Mutter auf meine Mutter gehetzt. Christiane Wechslers Mutter war Juristin und arbeitete auf dem Amt. Sicher hatte Christiane den Vorfall so dargestellt, als ob ich die Schuldige gewesen sei und meine Mutter mich in Schutz genommen hätte. Und sicher hatte sich ihre Mutter daraufhin bei meiner beschwert. Und da wollte diese jetzt ein Exempel statuieren und beweisen, dass sie ihre eigene Tochter nicht schone. Aber auch ein solches Motiv entschuldigte meine Mutter in meinen Augen keineswegs. Im Gegenteil!

      Noch immer in Strafacht vor dem Klassenzimmer wartend öffnete ich das Fenster und blickte auf den Kirchplatz. Ich mochte den Kirchplatz. Ich mochte auch meine alte Schule. Und die Kirche, die rechtwinklig zur Schule stand und mit ihrem reich verzierten Portal die Breitseite des Platzes einnahm. Gegenüber der Kirche war der Kindergarten, aber dazwischen war der Platz offen, stieg leicht an und verschwand in einem schmalen Gässchen, das sich entlang der alten Stadtmauer hinzog und zeitweise unter den mittelalterlichen Häusern hindurchführte.

      Der Kirchplatz, auf den ich jetzt mit wütenden Blicken schaute, war für mich ein ganz besonderer Ort. Er war zwar auch der Schulhof, auf dem ich in den Pausen mit meinen Mitschülern tobte und im Winter manchmal von Fritz, meiner Schülerliebe, mit Schnee eingeseift wurde. СКАЧАТЬ