Название: Das Echo deiner Frage
Автор: Eva Weissweiler
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Биографии и Мемуары
isbn: 9783455006445
isbn:
Obwohl WynekenWyneken, Gustav seine pädagogischen Bemühungen auf »Knaben«, die er über alles liebte, konzentrierte, fanden sich in den Sprechsälen viele junge Frauen ein. An der Zeitschrift Der Anfang wirkten Studentinnen und sogar Schülerinnen mit, die zum Teil herzerfrischend selbstbewusste Beiträge schrieben. Im Januarheft 1914 heißt es zum Beispiel:
Wie können Jungens es wagen, von uns Kameradschaft zu fordern, wenn sie in ihrer egoistischen Passivität und Bequemlichkeit nicht mal auf die Idee kommen, Professoren zu boykottieren, die die Kameradinnen von ihren Collegs ausschließen? […] Die Ehefrau rangiert nach dem heutigen Gesetz neben dem besoldeten Hausgesinde, das ebenso wie sie ungestraft von dem »Herrn« geprügelt werden kann, soweit nicht Körperverletzung im strafrechtlichen Sinn vorliegt. (Das Hausgesinde hat allerdings gegenüber der Ehefrau den Vorteil der Freizügigkeit: die monatliche Kündigung!) […] Fünfhundert Jahre vollständiger politischer, juristischer und sozialer Gleichberechtigung – das ist die unerlässliche Vorbedingung für jedes Debattieren über geistige oder sittliche Verschiedenheit der Geschlechter.[172]
Liebe und Hilfe
Am 4. Mai 1914 erwähnt Dora zum ersten Mal den Namen Walter Benjamins. In einem Brief an Herbert BlumenthalBlumenthal, Herbert schreibt sie:
Gestern war ich den ganzen Tag zu Hause. Heute Abend ist Benjamins Rede.[173]
Als Vorsitzender der »Freien Studentenschaft« würde er über das Thema »Hilfe« sprechen, das sie selbst vorgeschlagen hatte. Am nächsten Tag, dem 5. Mai 1914, berichtet sie BlumenthalBlumenthal, Herbert, der zu dieser Zeit gerade in London war:
Benjamins Rede – Du kennst ihn. Es war wie eine Erlösung. Man atmete kaum. Er wird Dir wohl selbst eine Abschrift senden. Unser Kreis fühlte: wäre nur Herbert hier![174]
Nach Benjamins Rede, deren Text nicht überliefert ist, stürmte Dora auf ihn zu und überreichte ihm Rosen, die sie vorsorglich eingekauft hatte. Sie erklärte, das tue sie, weil seine Freundin, Grete RadtCohn-Radt, MargareteRadt, GreteRadt, Grete, derzeit Studentin der Philosophie, nicht in Berlin sei. Benjamin reagierte darauf nicht etwa verstimmt, sondern begeistert. Noch nie hätten ihn Blumen so beglückt, schrieb er an Herbert BlumenthalBlumenthal, Herbert, mit dem auch ihn eine enge Freundschaft verband.[175] Dora habe ihm die Rosen stellvertretend für GreteRadt, Grete gegeben, »gleichsam von Grete«. Auf die Idee, dass sie sich selbst etwas davon versprach, kam er wohl nicht.
Später am Abend saßen sie noch zu mehreren zusammen: Dora, Max PollakPollak, Max, Walter Benjamin, dessen Freunde Franz SachsSachs, Franz und Fritz HeinleHeinle, Christoph Friedrich »Fritz«, einige Frauen, darunter die aus Köln stammende Geschichtsstudentin Helene WieruszowskiWieruszowski, Helene und noch ein paar andere. Eine junge Frau namens Lisa BergmannBergmann, Lisa ging vorzeitig nach Hause, weil sie glaubte, nicht mitdiskutieren zu können, da sie aus einfachen Verhältnissen stammte und nicht studierte. Außerdem bahnte sich zwischen ihr und Max PollakPollak, Max eine Affäre an, was Dora wusste. Aber das war nicht so schlimm. Das war in diesem Kreis ganz normal. Fast alle waren ein bisschen verliebt ineinander. Franz SachsSachs, Franz zum Beispiel hatte ein Verhältnis mit einer Frau namens Genia, flirtete aber trotzdem mit Helene WieruszowskiWieruszowski, Helene und führte so intensive Gespräche mit Dora, dass jeder normale Ehemann eifersüchtig geworden wäre. Aber Max PollakPollak, Max war eben kein normaler Ehemann. Er war ihr Zwangsgefährte. Deshalb gab es zwischen ihnen auch keine Eifersucht. Jedenfalls noch nicht.
Bei Tisch wurde weiter von Doras Thema, von »Hilfe«, gesprochen. Franz SachsSachs, Franz versuchte zu provozieren. Es missfalle ihm, vor so vielen Menschen über so etwas Intimes zu reden. Es verletze sein Schamgefühl. »Drob erhob sich brennender Streit«, berichtet Dora an BlumenthalBlumenthal, Herbert. Alle hätten ihn, HerbertBlumenthal, Herbert, herbeigesehnt, weil er so etwas Versöhnendes und Vermittelndes habe. Benjamin habe versucht zu moderieren, indem er gesagt habe:
Man müsse über alles sprechen können. Lähme das Gespräch die Hilfsmöglichkeit, so sei es eben nicht die richtige Hilfe gewesen. Sprechen und Handeln seien koordinierte Begriffe – nicht das Sprechen dem Handeln subordiniert. […] Also dürfe das Sprechen die Hilfe nicht erschweren, sondern sei im Gegenteil schon selbst Hilfe.
Nun kamen FranzSachs, Franz u. ich, die schon vorher sehr ans Persönliche, an den Einzelfall gedacht hatten, gänzlich in den Bann des heißen Wunsches, dies Gespräch als Mittel zum Zweck, zur Klarheit über gewisse schwebende Beziehungen zu benutzen. Und zwar sagte Benjamin: Helfen sei nur möglich, wenn man sich liebe. Mir blieb das Herz still stehen, ich erfasste ganz, was dies bedeute: dass man nur helfen dürfe, wenn man liebe und geliebt werde. Immer hatte ich die Möglichkeit gefühlt.[176]
Hilfe und Liebe. Hilfe aus Liebe. Benjamin hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Für Dora hatte Liebe viel mit »Hilfe« zu tun. War sie immer noch bei PollakPollak, Max, weil sie ihm »helfen« wollte? Fühlte sie sich so stark zu Franz SachsSachs, Franz hingezogen, weil er ihr leidtat? Er, der eifrige Jurastudent, war der am wenigsten Poetische in diesem Kreis, so berichtet es Wieland HerzfeldeHerzfelde, Wieland, ebenfalls Mitglied in der Gruppe, in seinem Tagebuch.[177] Er sei so spröde, so glatt rasiert gewesen, habe fast ein bisschen zu resigniert für sein Alter gewirkt. Außerdem habe er gar nicht »blond und stürmisch« wie ein Wandervogel ausgesehen, sondern sehr schwarz und sehr jüdisch, weshalb er bei jeder Gelegenheit auf sein Deutschtum zu sprechen gekommen sei. Über die Liebe sagte er, dass sie, wenn sie nicht erwidert werde, Abscheu, ja sogar Hass erzeugen könne. Als Dora schmerzlich berührt reagierte, fuhr er sie an:
Ja, Dora, Erkennen ist bitter.[178]
Später, auf dem Nachhauseweg, gingen sie nebeneinander durch die Nacht. Franz SachsSachs, Franz wurde plötzlich wieder ganz weich und erinnerte sie an gewisse Momente, die sie im Spreewald miteinander erlebt hätten, auf einem der traditionellen Ausflüge des Sprechsaals. Dora war »stumm und wie gelähmt vor Freude«. War er vielleicht doch nicht »hart wie Marmor«? СКАЧАТЬ