Название: Die große Zerstörung
Автор: Andreas Barthelmess
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Кинематограф, театр
isbn: 9783411913121
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Ebenfalls nicht disruptiv gestalten sich die sozialen Verhältnisse. Der Lebensstandard wächst bei den meisten Amerikanern und Europäern, und selbst den Armen geht es in den Nachkriegsjahren besser als je zuvor in der Geschichte der Menschheit.
Gestützt wird der kontinuierliche Fortschritt in der westlichen Welt durch eine keynesianische Nachfragepolitik – auch in den USA, wo man auf diese Weise der kommunistischen Konkurrenz die Show stehlen will. Man bemüht sich um sozialen Ausgleich, geht konsequent gegen Kartelle und Monopolstrukturen vor, zerschlägt oder reguliert sie. Es ist die Hochzeit des starken Staates. In den USA investiert die Regierung nach heutigen Maßstäben hohe dreistellige Milliardenbeträge in die Wettrüstungs- und Raumfahrtindustrie von Los Alamos und Cape Canaveral. In den beiden Nachkriegsjahrzehnten ist die amerikanische Regierung die Speerspitze des technologischen Fortschritts in der westlichen Welt, jenseits des Eisernen Vorhangs ist es die sowjetische.
In den Siebzigerjahren kommt es mit Einführung des Personal Computing zu einem Bruch. Das ist Disruption, wie sie der bereits erwähnte Clayton M. Christensen 1997 beschrieben hat. Microsoft und Apple sind Garagengründungen von jungen enthusiastischen Tüftlern mit ein paar Hundert Dollar Startkapital. 1943 soll der IBM-Vorstandsvorsitzende Thomas J. Watson von einem Weltmarkt für »vielleicht fünf Computer« gesprochen haben, jetzt rollen Bill Gates und Steve Jobs aus ihren Garagen-Nischen heraus innerhalb weniger Jahre einen Markt für Millionen von Personal Computern aus.
Die digitale Revolution beginnt. Sie bestimmt heute unsere Gegenwart wie keine andere technologische Entwicklung. Wieder gehen technologischer und ökonomischer – wenn man so will: kapitalistischer – Fortschritt Hand in Hand. Denn bei der Finanzierung junger Unternehmen auf dem entstehenden Personal-Computing-Markt spielt erstmals privates Wagniskapital, englisch »venture capital«, eine zentrale Rolle.
Das Prinzip des Venturecapital, ursprünglich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Umkreis der Harvard University aufgekommen, besteht darin, dass ein Wagniskapitalfonds Firmenanteile an mehreren innovativen, aber auch spekulativen, also hochriskanten Unternehmen erwirbt. Das Risiko eines einzelnen Totalausfalls wird dabei einkalkuliert und durch Streuung auf viele Unternehmen kompensiert. So geschieht es in den Siebzigerjahren im Umkreis der Stanford University. Das Silicon Valley heutiger Prägung entsteht.
Zugleich erlebt wirtschaftspolitisch die sogenannte Chicagoer Schule eine Renaissance. Jetzt geben statt John Maynard Keynes die Lehren von Friedrich Hayek und Milton Friedman den Ton an. Die Regierung setzt nicht mehr auf Nachfrage-, sondern auf Angebotspolitik. Neoliberales Denken, wie es zuletzt vor der Wirtschaftskrise 1928/29 populär war, wird wieder Mainstream. In den USA beginnen die Reaganomics, in Großbritannien der Thatcherismus. Es kommt zum Börsenboom der Achtzigerjahre.
Wieder zeigt sich, wie eng Technologie und Marktgeschehen verflochten sind. Denn es sind die neuen Informationstechnologien – Computer-Trading, Chartanalysen, automatische Stop-Kurse –, die jetzt das Wachstum an der Börse befeuern. 1981 legt Michael Bloomberg mit dem »Bloomberg Terminal«, einem bis heute an den Börsen genutzten Datenmonitor, den Grundstein zu seinem Milliardenvermögen.
In den Siebziger- und Achtzigerjahren beschleunigt der Computerhandel die Globalisierung der Finanzmärkte. Steuersenkungen und Deregulierung scheinen sich auszuzahlen, zumindest die Börse brummt. Das geht so bis zum 19. Oktober 1987. An diesem sogenannten Schwarzen Montag kommt es zum ersten IT-Börsencrash überhaupt. Innerhalb weniger Stunden wächst er sich zum größten Crash seit Ende des Krieges aus, 500 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung lösen sich in Luft auf.
Niemand verkörpert den Geist der Börsenboom-Jahre so perfekt wie der von Michael Douglas gespielte Gordon Gekko im Film Wall Street. Haare zurückgegelt, mit Hosenträgern und weißem Kragen, predigt er »Gier ist gut«. Sozialdarwinismus ist auf einmal sexy und der Finanzmarkt so cool wie heute »Tech«. Man glaubt an Markt, Technologie und Shareholder Value, und schon steigen die Kurse.
Anfang der Achtziger wird der Begriff »Globalisierung« populär. Eine zentrale Rolle spielt er in John Naisbitts Buch Megatrends, Theodore Levitts Globalization of Markets hebt ihn sogar in den Titel. Mit dem damals noch typischen Zeitverzug von ein paar Jahren erreicht der Begriff Europa. Ein Jahrzehnt später ist er fester Bestandteil des politischen Vokabulars und flankiert weltweit Freihandelbestrebungen.
In Europa wird Ende der Achtzigerjahre der EU-Binnenmarkt erdacht und Anfang der Neunzigerjahre eingeführt. Bis heute ist er auf die Industrie ausgelegt, aber nicht auf Dienstleistung und IT. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA kommt 1994, ein Jahr darauf die World Trade Organization WTO. Nicht zufällig ist Freihandel die Losung des Jahrzehnts, das Ende des Kalten Kriegs verbucht man symbolisch als Sieg des Kapitalismus. Die Gleichung lautet: Kapitalismus plus Freiheit ist Freihandel. Capitalism rules, da interessieren die rules of capitalism nicht so sehr. In den Neunzigerjahren und auch noch im Jahrzehnt darauf erreicht die Weltwirtschaft Osteuropa und die Schwellenländer, vor allem in Asien. Die ganze Welt glaubt jetzt an das Dogma von freien Märkten, freiem Handel und Wohlstand für alle. Doch selbst wenn es ökonomisch richtig erscheint, kann man kulturell und ökologisch daran zweifeln. Die Welt ist kein Pareto-optimiertes Modell, das heißt ein ökonomisches Modell, in dem alle profitieren. Doch das fällt den meisten nicht auf. Im Enthusiasmus nach dem Ende des Kalten Kriegs fehlt dem Kapitalismus ganz einfach ein Regulativ.
Das wird in der Finanzkrise von 2008 klar, als es zum Meltdown kommt. Großbanken gehen pleite, große Versicherungen straucheln, der Staat springt ein. Wenngleich kurzfristig effektiv, kommt die staatliche Bankenrettung mittelfristig nicht gut an. Denn der Einsatz von Steuergeld gilt »systemrelevanten« Finanzunternehmen, und so entsteht der Eindruck, dass der Staat erpressbar sei. Die systemrelevanten Unternehmen privatisieren ihre Hochrisiko-Gewinne, die Verluste und Totalausfälle hingegen werden vom Steuerzahler aufgefangen.
So verlieren die Menschen ihr Vertrauen in das, was heute immer öfter misstrauisch, ja verschwörerisch, als »das System« bezeichnet wird. Die aus der US-Finanzkrise folgende Eurokrise, die sich über die nächsten Jahre hinzieht – Stichwort Griechenland –, blockiert eine nach vorne gerichtete Agenda Europas. Die politische Vertrauenskrise verschärft sich, bis sie dann 2016 mit dem Referendum der Briten und der Wahlentscheidung der US-Amerikaner die Verhältnisse grundlegend verändert.
Während ich in den Neunzigerjahren noch in meinem Betongymnasium sitze, zeichnen sich ökonomisch drei Trends ab: Ausweitung des Freihandels, Aufstieg der Informationstechnologie – Mobilfunk, Internet und beginnender E-Commerce beschleunigen Kommunikation und Handel – sowie konsequentes Outsourcing. Mitte der Achtziger war bereits das erste große Leder- und Textil-Outsourcing von Deutschland an die Ränder der EU erfolgt, insbesondere in die neuen Mitgliedsstaaten Portugal und Spanien. Zehn Jahre später geht es global weiter in Richtung Bangladesch oder Vietnam, die europäische Peripherie ist zu teuer geworden.
In Europa schrumpfen die Distanzen immer weiter, insbesondere der Bezugsrahmen für junge Leute wird größer. In den Nullerjahren etabliert sich die »Generation Easyjet«. Billigflieger machen Fliegen endgültig zur Commodity. Studierende besuchen sich übers Wochenende gegenseitig an ihren Erasmus-Studienorten, kostet ja weniger als eine Bahnfahrt nach Hause und bringt viel mehr Spaß. Zur selben Zeit redet man von der »Generation Praktikum«, die sich mit Elternunterstützung durch die katastrophal schlecht bezahlten ersten Berufsjahre volontiert. Das ist kein Zufall. Denn Easyjet und Dauerpraktikum sind zwei Seiten ein und derselben Medaille: nämlich der Globalisierung.
So sieht es jetzt aus: СКАЧАТЬ