Die große Zerstörung. Andreas Barthelmess
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Название: Die große Zerstörung

Автор: Andreas Barthelmess

Издательство: Readbox publishing GmbH

Жанр: Кинематограф, театр

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isbn: 9783411913121

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СКАЧАТЬ Die Bevölkerung wächst rapide, Nationalstaaten entstehen und versuchen sich – mehr oder weniger erfolgreich – an der Republik als einem neuen, postfeudalen Ordnungsrahmen. Räumlich wie kulturell wandeln sich die Bezugssysteme der Menschen. Aus regionalen und religiösen Bezügen werden nationale: so in Frankreich 1789 mit der Revolution und 1848 mit der Zweiten Republik, in Deutschland 1848 mit der Nationalversammlung in der Paulskirche und in Italien 1849 mit Giuseppe Garibaldi und der Risorgimento-Bewegung. Offensichtlich treten nicht nur Erfindungen manchmal innerhalb weniger Monate gleichzeitig auf, sondern auch Revolutionen. Und obwohl diese jeweils nationalen Charakter haben, sind sie doch allesamt vom Momentum jener paneuropäischen Vernetzung und Beschleunigung getragen, das auch die Industrialisierung antreibt. Diese immer häufiger vorkommende Gleichzeitigkeit von historischen Ereignissen, die nicht unmittelbar kausal miteinander verbunden sind, ist ein Symptom der sich beschleunigenden Geschichte.

      Beschleunigung ist das Zeitgefühl des 19. Jahrhunderts. Sie stimmt die Menschen fortschrittsoptimistisch, macht ihnen aber auch Angst. Die rasende Geschwindigkeit der ersten Zuckelzüge – sie sind sogar schneller als ein galoppierendes Pferd! – verursacht die »Eisenbahnkrankheit«. Die Menschen sind erschöpft von der Raserei und zittern nervös. Als Gegenbewegung zur Aufklärungs- und Technikgläubigkeit an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entsteht die Romantik. Sie ist historisch rückwärtsgewandt und verklärt ein aus wackeren Rittern, rotlippigen Prinzessinen und emsigen Zwergen zusammengebasteltes Klischee-Mittelalter. Die Romantik besinnt sich auf Natur und »Waldeinsamkeit«, ihre Poesie beschwört eine heimatlich-ländliche Geborgenheit. So reagiert die Romantik auf das Stampfen der Dampfmaschinen, wie wir heute mit Yoga und Meditation, Achtsamkeit und Paläo-Diät auf den Stress der digitalen Vernetzung reagieren. Zweihundert Jahre nach den Romantikern suchen wir wieder Entschleunigung und Auszeit vom Fortschritt, der uns überfordert und an den Nerven zerrt.

      Die Alternative zum Samtbarett der Dichter und Komponisten ist die preußische Pickelhaube. Man steckt den Kopf rein und präsentiert sich militärisch auf Zack. Am Ende des Jahrhunderts tragen die Männer hochgebürstete Schnauzer wie Kaiser Wilhelm der Zwote, die aussehen wie ein Reichsadler-Absturz unter der Nase. Ist es Zufall, dass heute Hipster und Hänflinge expressive Holzfällerbärte tragen? In Zeiten des Umbruchs dienen sie der männlichen Selbstvergewisserung. Man krault sich den Bart, und schon fühlt Mann sich besser.

      Ende des 19. Jahrhunderts haben sich in Essen die Thyssen-Krupp-Ruhrbarone etabliert, nationale Superreiche, die jetzt dem alten Adel den Rang ablaufen und bis zum Ersten Weltkrieg massiv von der Aufrüstung profitieren. Noch Hitler wünscht sich die Deutschen »hart wie Kruppstahl«. Militarismus und Kolonialismus, man könnte auch sagen: imperialistischer Expansionismus, sind der Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

      Der Erste Weltkrieg, der mit der Niederlage Deutschlands und der Abdankung des Kaisers endet, markiert das Ende des »langen 19. Jahrhunderts«. So hat es der Universalgelehrte Eric Hobsbawm genannt, so haben es nach ihm viele Historiker geschrieben. Jetzt erst sind die großen Übergänge des 19. Jahrhunderts vollendet: der Wandel von regionaler zu nationaler Zugehörigkeit, von vorindustriell-handwerklicher zu industrieller Massenproduktion, von autoritären Monarchien zu demokratischen Verfassungsstaaten.

      Hundert Jahre später, denke ich, wiederholt sich die Geschichte. Denn nicht mit dem Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 endet das 20. Jahrhundert, sondern erst im Jahr 2016. Das ist das Jahr, in dem Putin und Populisten allerorts Facebook kapern, die Briten für »Leave.EU« votieren und Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wird. Ab jetzt gelten die politischen Naturgesetze des 20. Jahrhunderts nicht mehr. Donnerschlag! Eine neue Zeit ist da. Nur niemand weiß, welche.

      Knapp hundert Jahre zuvor, in der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939, scheint sich die Geschichte der industriellen Beschleunigung und Effizienzsteigerung noch einmal im Zeitraffer zu wiederholen. Henry Fords Einführung des Fließbands macht den Ford »Model T« zum ersten Auto, das sich die obere Mittelklasse leisten kann. Über die zwei Jahrzehnte, in denen der Wagen gebaut wird, sinkt seine Montagezeit von zwölf Stunden auf eine, der Preis von knapp 1000 auf gut 250 Dollar. Der Preis jedoch, den die Fließbandarbeiter dafür entrichten, ist hoch. Ihre Arbeit ist stupide und monoton, immer dieselben wenigen Handgriffe, fremdbestimmt durch die Laufgeschwindigkeit des Fließbandes.

      Schon Marx hatte solche Tätigkeiten als »entfremdete Arbeit« beschrieben. Niemand beherrscht unter diesen Bedingungen noch, ja, niemand überblickt mehr die gesamte Montage eines Autos. Aus Motorenbauern und Karosseriemachern, die stolz auf ihre Arbeit und das von ihnen hergestellte Produkt waren, sind Malocher geworden, die es dem relativ hohen Lohn zum Trotz meist nicht lange bei Ford aushalten. Das liegt auch daran, dass im Unterschied zum traditionellen Handwerk den Arbeitern das von ihnen hergestellte Produkt am Ende nicht gehört. Es erscheint ihnen fremd. Heute würde man sagen, in der »entfremdeten« Arbeit fehlt es am Gefühl der »Selbstwirksamkeit« und damit an einer wichtigen psychologischen Voraussetzung, um mit der eigenen Arbeit zufrieden zu sein und sogar einen Sinn in ihr zu sehen.

      1929 kommt die Weltwirtschaftskrise. Sie verursacht nicht, aber sie beschleunigt den deutschen, italienischen und spanischen Weg in den Faschismus, der gerade einmal ein Vierteljahrhundert nach dem Ersten in den Zweiten Weltkrieg und in die Schoah führt.

      1945 schaffen die Alliierten die erste stabile Befriedung des industriellen Zeitalters. Das gelingt ihnen auch deshalb, weil die europäischen Demokratien den Kapitalismus in Form der sozialen Marktwirtschaft einhegen. Es folgen Jahrzehnte der inkrementellen Innovationen. Kühlschrank und Staubsauger, Kaffeemaschine und Käfer, Nylonstrumpfhose und oberitalienischer Campingplatz werden immer besser und billiger, mehr und mehr Wirtschaftswunderdeutsche können sich solche Annehmlichkeiten leisten. Volksparteien und Gewerkschaften blühen, der Sozialstaat wird ausgebaut.

      Endlich gelingt der Frieden, für den das 19. Jahrhundert, das Deutsche Kaiserreich und die Weimarer Republik noch nicht bereit waren. Zu lange hatten sie gebraucht, um auf die neuen sozialen Fragen zu reagieren, zu schwach waren ihre Antworten gewesen. Zu stark hingegen war vor dem Ersten wie vor dem Zweiten Weltkrieg der Kriegsdruck des militärisch-industriellen Komplexes, zu groß die nationalistische und autoritäre Führer-Sehnsucht in großen Teilen der Bevölkerung. Das haben die Alliierten 1945 korrigiert. So wurden die Exzesse von Kapitalismus, Industrialisierung und Nationalismus fürs Erste gebannt.

      Nach den Weltkriegen beginnt das Zeitalter der Globalisierung im modernen Sinne des 20. Jahrhunderts. Rasant wächst in den 1950er- und 1960er-Jahren der internationale Flugverkehr. Vor allem amerikanische Firmen internationalisieren sich. Heute bekommt man Coca-Cola in allen Ländern mit Ausnahme von Kuba und Nordkorea, und gegen Touristen-Dollar auch dort. 1962 gibt John F. Kennedy die Losung aus, innerhalb eines Jahrzehnts zum Mond zu fliegen. Einer Anekdote zufolge hat Kennedy im selben Jahr bei einem Besuch des NASA Space Center einen Hausmeister mit einem Besen in der Hand gefragt, was er tue. Die Antwort: »Mr President, ich helfe mit, einen Mann zum Mond zu bringen.« Deutlicher lässt sich die erfolgreiche Mobilisierung der amerikanischen Gesellschaft nicht beschreiben. Noch heute spricht man in der Technologiedebatte von »Moonshoot Projects«, wenn ambitionierte technologische Großprojekte gemeint sind, die eine Sogwirkung und Aufbruchsstimmung entfalten sollen. Den Amerikanern ist das in den 1960er-Jahren gelungen. Verrückterweise sind sie schon 1969 auf dem Mond.

      Jetzt ist es so weit: Der technologische Fortschritt geht in die exponentielle Beschleunigung, Stichwort Moore’sches Gesetz. Das führen auch die Kurven der Geschwindigkeit vor Augen, mit der sich der Mensch fortbewegt. Lange Zeit maximal auf die 60 km/h eines galoppierenden Pferdes beschränkt, überbietet die Eisenbahn diese Geschwindigkeit Mitte des 19. Jahrhunderts, Flugzeug und Auto folgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, schon 1941 ist das Flugzeug schneller als 1000 km/h.

      Ist diese Entwicklung disruptiv? Nein. Sie ist inkrementell par excellence. Denn die technischen Innovationen der Nachkriegszeit sind meist Weiterentwicklungen von Vorkriegserfindungen. Bei der NASA (National Aeronautics and Space Administration) und DARPA (Defense Advanced Research СКАЧАТЬ