Politik und Kultur dienen der Zivilisation des technologischen Fortschritts. Findet man, dass das im Großen und Ganzen gelingt, dann ist man ein Fortschrittsoptimist. Man kann die Geschichte auf unterschiedliche Arten erzählen, eine optimistische Fortschrittserzählung ist eine davon. Einer ihrer prominentesten Vertreter der Gegenwart ist der in Harvard lehrende Psychologieprofessor Steven Pinker. Er hat argumentiert, dass die Welt im Laufe der Geschichte immer besser geworden ist, weil die Menschen aus Kriegen und anderen humanitären Katastrophen überwiegend die richtigen Schlüsse gezogen haben.
Schauen wir, ob Pinker recht hat. 1769 erfindet James Watt die Dampfmaschine. Sie mobilisiert die Energieerzeugung und schafft die Voraussetzung für Eisenbahn, Automobil und Flugzeug. Auch die Kohle- und Stahlindustrie wird durch die Dampfmaschine möglich. Watts Erfindung ist die Grundvoraussetzung für die Industrialisierung, jene zweite Ära der Neuzeit, in der sich die durch den kolonialen Überseehandel angeschobene Globalisierung weiter beschleunigt. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Bank- und Kreditwesen, das sich seit der Renaissance entwickelt hat. Zusätzlich zum Eigenkapital lassen sich Unternehmensgründungen und -expansionen jetzt auch mithilfe von Fremdkapital finanzieren. Industrialisierung und Kapitalismus, darin hatten Marx und Engels recht, gehen Hand in Hand.
Von nun an ist die Beschleunigung des Fortschritts nicht mehr zu übersehen. Beim Rad hatte es noch Jahrtausende gedauert, bis jemand die plumpen, schweren Scheibenräder zu eleganten, leichten Speichenrädern verbesserte. Der Steigbügel fiel den Menschen erst nach Jahrtausenden militärischer und nichtmilitärischer Reiterei ein. Auch der Räderpflug, der mit einer breiten Pflugschar die Scholle wendet, ließ Jahrtausende auf sich warten.
In der Neuzeit aber geht es Schlag auf Schlag. Das Schwarzpulver kommt auf, und sofort verschwinden die riesigen Ritterrüstungen, die nun keinen Schutz mehr bieten. Papier und Buchdruck machen Bücher erschwinglich, mehr und mehr Menschen lernen lesen, und Ende des 18. Jahrhunderts führen die ersten Länder Europas die Schulpflicht ein. Von der Dampfmaschine bis zum automobilfähigen Verbrennungsmotor im engeren Sinne dauert es gut hundert Jahre, Otto-, Diesel- und Wankelmotor folgen dann innerhalb weniger Jahrzehnte.
Ursache dieser Innovationsbeschleunigung ist nicht nur die Institutionalisierung von Wissen in Hochschulen, Bibliotheken und Patentämtern, sondern auch die durch ihre Vernetzung ermöglichte immer schnellere Zirkulation des Wissens. So kommt es dazu, dass epochale Erfindungen wie Glühlampe und Telefon zeitgleich an unterschiedlichen Orten gemacht werden. Auch Carl Benz und Gottlieb Daimler entwickeln das von einem Viertaktmotor angetriebene Automobil zunächst unabhängig voneinander, beide stellen ihr Ur-Auto im selben Jahr 1886 vor. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, so scheint es, liegen manche Erfindungen in der Luft.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlaubt es die Dampfmaschine, jene Kohle immer effizienter abzubauen, die sie selbst in immer riesigeren Mengen verschlingt. Im Ruhrgebiet, in Lothringen, Großbritannien und den USA entstehen um Kohleminen herum Städte. Immer größer werden Eisenguss- und Walzwerke, Eisenbahnen und -brücken, Kanonen und Panzerkreuzer. Der Zeitgeist wandelt sich. Unterhielt das nostalgische frühe 19. Jahrhundert noch romantische Mittelalterfantasien, so richtet man am Ende des Jahrhunderts den Blick radikal optimistisch in die Zukunft. Noch 1831 stilisiert Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame die Pariser Kathedrale zum Wahrzeichen der Stadt und den buckligen Glöckner zur Ikone der Schwachen, Ungeliebten und Abgehängten. Doch zur Weltausstellung 1889 schafft sich Paris ein neues Wahrzeichen, das das alte überschreibt: den Eiffelturm. Sein Eisenfachwerk ragt fünfmal so hoch in den Himmel wie Notre-Dame, ein Symbol des technisch Machbaren, 300 Meter Erhebung über die Pariser Stadtarchitektur. Steht man oben, schwebt man so hoch über dem sozialen Elend der Stadt, dass man es gar nicht mehr sieht. Der Technik-Optimismus der Industrialisierung blendet seine sozialen Folgen aus. Dabei rumort es schon seit Längerem unten auf den Straßen. Die sozialistische Revolte der Pariser Kommune hatte die Obrigkeit 1871 gerade noch so mit grauenhaften Massenerschießungen abwehren können.
Eine wichtige Rolle bei der industriellen Revolution spielte die Erfindung des dampfmaschinengetriebenen mechanischen Webstuhls, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die händisch, häufig in Heimarbeit produzierenden Weber vom Markt verdrängte. Dass die Einführung dieser Maschine disruptiven Charakter hatte, erkannten die plötzlich von der Arbeitslosigkeit und buchstäblich vom Verhungern bedrohten Weber schnell. Es kam zu »Maschinenstürmen«, bei denen sie die neuen Webstühle zerstörten. Marx und Engels sprachen von »Revolten gegen die Maschine«. Man denkt da nicht zufällig an den »War Against the Machines«, den Arnold Schwarzenegger seit Terminator 2: Judgment Day führt.
Von den Weber-Aufständen des 19. Jahrhunderts handelt Gerhart Hauptmanns Sozialdrama Die Weber. Es stellt brutal ungeschminkt in naturalistischer Weise das soziale Elend dar, das der Übergang von der Agrar- und Handwerks- zur Industriegesellschaft im Europa des frühen 19. Jahrhunderts mit sich brachte. Karl Marx hatte dieses aus heutiger Sicht unvorstellbare Elend – heute allenfalls in Accra, Dhaka oder Delhi denkbar – in der schottischen Industrie- und Werftstadt Glasgow studiert, bevor er seine Kapitalismuskritik formulierte.
Marx zufolge hat sich die Ständegesellschaft von Adel, Handwerk und Bauern in eine Klassengesellschaft verwandelt, in der reiche Unternehmer – die »Kapitalisten« – land- und besitzlose und daher vollkommen lohnabhängige Arbeiter – die »Proletarier« – beherrschen und ausbeuten. In der Tat sind Mitte des 19. Jahrhunderts die Verhältnisse in Europa verheerend, die Kindersterblichkeit unter den Ärmsten ist extrem, Menschen verhungern. Die verarmte Landbevölkerung flieht in die Städte, dort gibt es jedoch keinen Wohnraum. Die Menschen, auch Kinder, schuften mehr als zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Dem gnadenlosen Lohndumping hat das von Marx so bezeichnete »Lumpenproletariat« nichts entgegenzusetzen außer, im äußersten verzweifelten Falle, Gewalt.
So kommt es zu Aufständen und Revolutionen und zu Bewegungen, die die dramatisch gewordene soziale Frage politisch angehen. 1848 veröffentlichen Marx und Engels das Kommunistische Manifest mit dem berühmten Schlusssatz: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Im selben Jahr konstituieren sich in London der Bund der Kommunisten und in Deutschland die erste Gewerkschaft, 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, aus dem sich eine Partei entwickelt, die sich 1890 den Namen SPD gibt. Die Sozialisten sind es, die den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck in den 1880er-Jahren zur Sozialgesetzgebung zwingen, zur Einführung der allgemeinen Arbeiter-Unfall- und -Krankenversicherung, später auch der Rentenversicherung.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin ein Fan der freien Marktwirtschaft. Historisch hat erst der Markt Arbeitsteilung und Spezialisierung möglich gemacht, und ohne ihn wären Fortschritt in Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur gar nicht denkbar. Nur der Markt, die arbeitsteilige Gesellschaft, ermöglicht Kultur und Kunst. Das müssen wir uns klarmachen. Der Markt sorgt dafür, dass der Bäcker morgens freiwillig aufsteht, um Brötchen zu backen. Niemand zwingt ihn dazu. Oder dass es Schnürsenkel in der richtigen Farbe, Länge und Stärke gibt, wenn sie mal reißen. Das sind die Beispiele, die der Ökonomieprofessor Hans-Werner Sinn oft in seinen Vorlesungen verwendet hat. Die Kunst der sozialen Marktwirtschaft ist es, Regeln zu setzen, damit der Markt Angebot, Nachfrage und darüber die Preisfindung regeln kann. Und die Kunst ist es, meist nur behutsam einzugreifen, etwa durch Ausgleich der Einkommen und Sozialleistungen, manchmal aber auch entschlossen. Das ist eine wichtige Lehre des 19. Jahrhunderts. Ohne Zweifel, der Kapitalismus hat den globalen Wohlstand gesteigert und Armut reduziert, Ungleichheit aber ganz sicher nicht. Das gilt erst recht für den digitalen Kapitalismus von heute, über den wir sprechen müssen. Denn bisher sollen auch für ihn die ökonomischen und politischen Dogmen des industriellen Zeitalters gelten. Gerade das kann nicht sein, darum geht es mir hier.
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