Название: Die Gier des Staates
Автор: Peter Uhl
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежная деловая литература
isbn: 9783347061620
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Zurück in München ging ich wieder in die Staatsbibliothek und versuchte herauszufinden, was in dieser Situation noch unternommen werden konnte, und wurde fündig. Ich schrieb eine Dienstaufsichtsbeschwerde an die nächsthöhere Behörde, in diesem Fall die Oberfinanzdirektion Freiburg, beschwerte mich über das undemokratische Verhalten, verwies auf das in Artikel 103 des Grundgesetzes enthaltene Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, nicht nur im Prozess, sondern auch im davor liegenden Verwaltungsverfahren,11 und trug meine zwölf Einwendungen vor.
Nach einiger Zeit bekam ich Post vom Finanzamt Kehl. Man teilte mir mit, die Aufsichtsbehörde habe das Finanzamt angewiesen, mich anzuhören. Ich wurde gebeten, nochmals beim Finanzamt vorzusprechen, und trampte also wieder von München nach Kehl.
Dem Vorsteher des Finanzamts Kehl stand die Prügelstrafe – aus seiner Sicht wohl leider – nicht mehr zur Verfügung und so rächte er sich auf die einzige Art, die ihm noch verblieb: Er ließ mich die lange Reise per Anhalter machen, lediglich um mir mitzuteilen, dass sich das Finanzamt entschlossen habe, den Fall an die Aufsichtsbehörde zur weiteren Bearbeitung abzugeben. Dafür hätte auch ein einfacher Brief genügt.
Die Akten befanden sich nunmehr in Freiburg. Von dort bekam ich nach einiger Zeit positive Nachricht. Ich hatte vorgetragen, dass Sachverhalte im Prüfungsbericht unzutreffend dargestellt wurden, woraus sich eine zusätzliche – unberechtigte – Steuerbelastung ergab. Das ist übrigens auch heute noch eine gängige Methode der Betriebsprüfung, um zusätzliche Steuereinnahmen zu erzielen. An die übrigen Einwendungen, die ich gegen den Betriebsprüfungsbericht vorgetragen hatte, kann ich mich heute nicht mehr erinnern, sie waren aber so stichhaltig, dass die Oberfinanzdirektion Freiburg zustimmte. Das Finanzamt musste daraufhin die Änderungsbescheide aufheben und meine Eltern keine Steuern nachzahlen. Ich hatte mich auf ganzer Linie durchgesetzt.
Es stellten sich mir nach dem für meine Eltern erfolgreichen Ausgang der Betriebsprüfung verschiedene Fragen: Wie konnte es sein, dass Finanzbeamte in so eklatanter Weise rechtswidrig handeln? Ich wusste es nicht, hatte aber eine Vermutung: Es könnte mit den Nachwehen des Dritten Reichs zu tun haben. Während meiner Schulzeit endete der Geschichtsunterricht 1914, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Zeit danach existierte nicht. In der Schule waren Fragen, die diese Zeit betrafen, unerwünscht. Unmittelbar nach dem Abitur wusste ich nicht, wie Bürokratie funktionierte. Was die wichtigsten Vertreter der Philosophie, Politologie und Soziologie über Macht und Machtmissbrauch erforscht haben, war mir – wie wohl den meisten Bürgern – unbekannt. Unterricht über die Grundzüge eines demokratisch organisierten Staatswesens stand während meiner Schulzeit nicht auf dem Lehrplan. Mit berühmten Philosophen, Politologen und Soziologen wie Hobbes, Hume, Locke, Max Weber oder Hannah Arendt habe ich mich erst viele Jahre später beschäftigt, als meine Frau ein zweites Studium, Politologie, begonnen hatte und wir über dieses Fachgebiet interessante Gespräche führten. Mein Wissen über die Zeit von 1914 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war also minimal. Die Macht, die Beamte in der Nazizeit gegenüber der Bevölkerung hatten, hatte ich als Kind lediglich in meinem Elternhaus zu spüren bekommen: Über bestimmte Angelegenheiten wurde nur sehr leise gesprochen und aus dem Verhalten meiner Mutter wurde deutlich, dass sie Angst hatte. Als Schüler litt ich unter der Sprachlosigkeit meiner Lehrer, die sich für ihre Vergangenheit vielleicht schämten. Da sie nicht reden konnten, spürte ich, wie sich ein roter Faden der Verlogenheit durch den Unterricht zog. Hinter dieser Verlogenheit stand wohl die Absicht des Kultusministeriums, die Komplizenschaft des Staatsapparats bei den begangenen Verbrechen zu verschleiern.12
Und nun hatte ich aufgrund der Betriebsprüfung zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Behörde, einem Finanzamt zu tun. In meiner jugendlichen Naivität konnte ich mir nicht vorstellen, dass Beamte nach dem Desaster des Dritten Reichs nichts hinzugelernt hatten.13 Viele Jahre später begriff ich jedoch: Warum sollten Beamte, die bereits in der vergangenen Diktatur in Amt und Würden standen, ihr Verhalten ändern? Sie hatten kaum etwas zu befürchten, wie der Fall Globke zeigt. Er war das prominenteste Beispiel für die Übernahme der Verwaltungseliten des Dritten Reichs in den Behördenapparat der frühen Bundesrepublik Deutschland während der Adenauer-Ära. Globke war an der Entstehung der Nürnberger Rassengesetze beteiligt und verfasste 1936 zusammen mit Stuckart auf das Widerwärtigste den ersten Kommentar zu diesen Gesetzen. Unter Adenauer war er Staatssekretär im Bundeskanzleramt.14 Der FDP-Politiker Thomas Dehler äußerte sich so: »Globke hat einem Geist gedient, dem Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind.«15
Das Versagen des Verwaltungsapparats im Dritten Reich ist heute wissenschaftlich in großem Umfang erforscht. Das Buch von Christiane Kuller, Bürokratie und Verbrechen – Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland, ist im Jahr 2013, das Buch von Götz Aly, Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, im Jahr 2005 erschienen. Mit dem 2016 veröffentlichten Abschlussbericht Die Akte Rosenburg ist die NS-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums aufgearbeitet worden.
Da rechtswidriges Handeln in allen Gesellschaftssystemen vorkommt, sowohl in einer Diktatur als auch in einer Demokratie, egal ob sie marktradikal, sozialradikal oder als soziale Marktwirtschaft organisiert ist, werde ich bei meiner Untersuchung, warum Mitarbeiter im öffentlichen Dienst sich nicht immer an Gesetz und Recht halten, zum Vergleich an einigen Stellen die Zeit der NS-Diktatur mit einbeziehen.
In allen Behörden sorgen geduldete Verhaltensweisen, Techniken und Hilfen zur Förderung unethischen Verhaltens für rechtswidrige Entscheidungen. Auch in einer Demokratie wird bürokratische Macht missbraucht. Der verstorbene bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß war unter den Politikern ein besonders schwarzes Schaf. Die mit seiner Person verbundenen zahlreichen Affären, die insbesondere durch die willfährige Mitwirkung mehrerer leitender Beamter des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen erst möglich wurden, hat Schlötterer in seinem Buch Macht und Missbrauch – Franz Josef Strauß und seine Nachfolger – Aufzeichnungen eines Ministerialbeamten ausführlich beschrieben.
Heute gibt es über die Zeit der Fünfziger- und Sechzigerjahre Informationen, die mir damals nicht zugänglich waren. Vor allem der ARD-Film Die Akte General16 setzt sich mit dieser Zeit auseinander. Die Mehrheit der Beamten, die im Dritten Reich zur Verwaltungselite gehörte, war mit dem Nazi-Virus infiziert. Dieser Personenkreis übernahm in der jungen Bundesrepublik die Schalthebel der Macht in Politik, Behörden und Gerichten und verhinderte die Aufklärung der Naziverbrechen.
Von der von mir erwarteten Redlichkeit staatlichen Handelns war also weit und breit nichts zu sehen. Ich fragte mich, warum der Steuerberater meinen Eltern nicht helfen konnte, und fand heraus, dass er mit dem Betriebsprüfer verwandt war. Der Steuerberater hatte nicht die Interessen seiner Mandanten, also meiner Eltern wahrgenommen, sondern mit dem Betriebsprüfer zusammengespielt. Aber warum sollte er das tun?
Am Anfang der jungen Bundesrepublik waren viele Gesetze noch nicht demokratisiert worden. Für bestimmte Rechtsgebiete fehlten sogar noch die entsprechenden Gesetze. Das Steuerberatungsgesetz, die Berufsordnung für Steuerberater, trat erst am 01.11.1961 in Kraft, mehr als 16 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine unabhängige Finanzgerichtsbarkeit gab es im nationalsozialistischen Staat nicht. Der sah darin nur eine unbequeme Hemmung der Verwaltungsbeamten, die sich zum Führen und Handeln berufen wähnten und nicht auf das Erkennen und Einhalten von rechtlichen Schranken eingestellt waren.17 Die Rechtsgrundlage für den gerichtlichen Rechtsschutz bei Streitigkeiten mit der Finanzverwaltung wurde erst 1965 durch die Finanzgerichtsordnung geschaffen, СКАЧАТЬ