Der Steinzeitmensch in uns - Wie uralte Programme uns unbewusst steuern, wir aber trotzdem zivilisiert sein können. Wolfgang Issel
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СКАЧАТЬ reagieren. – Bis umgeschaltet ist, hat es längst gekracht.

      Wie auch immer scheint es keine verortbare Institution zu geben, die in diesem Kontinuum zentralistisch das Sagen hätte. Die Suche nach dem Ich hätte insofern wenig Sinn. Es geistert irgendwo im Organismus herum und ist jeweils dort, wo es etwas zu fühlen oder zu tun gibt. Als Regierung dauernd auf Reisen zu sein, hat sich anscheinend bewährt.

      Schmerzt dich dein Rücken, mutierst du zum Rücken-Ich. Du wirst ganz davon dominiert, den üblen Schmerz zu vermeiden, indem du deine Bewegungen einschränkst. Jetzt ja nicht bücken oder etwas Schweres tragen. Liest du ein spannendes Buch, wirst du zum Lese-Ich, indem du dich von der Handlung mitreißen lässt und nicht einmal bemerkst, wie dringend du auf die Toilette musst. Das wird dir erst bewusst, wenn du das Buch zuklappst und sich deine Priorität verlagert.

      Die Rechenvorgänge in deinem körperlich-seelisch-mentalen Kontinuum sind unaufhörlich im Organismus unterwegs, selbst noch im Schlaf. Sicherlich nicht als wohldefinierte Endlosschleife wie in einem Computer, sondern eher in Form eines höchst dynamischen und unablässig aktiven Algorithmus. In Zeiten ohne wesentliche Anforderungen wären eher zufällige, womöglich auch chaotische Abfolgen zu erwarten bis hin zu einer Art kreativem Herumspinnen, sobald jedoch eine ernsthafte Anforderung auftritt, wird sich dein Verhaltensrechner auf diese konzentrieren, gleich ob körperlicher, seelischer oder mentaler Natur. Es kann sich um ein inneres Bedürfnis, z. B. Hunger handeln oder eine äußere Anforderung, z. B. eine Aufgabe zu erfüllen oder einen Angriff abzuwehren.

      Wenn nichts Wichtiges anliegt und Langeweile aufkommt, wird der Algorithmus jeden noch so kleinen Anlass zur Hauptsache erklären, sogar die Fliege an der Wand kann dann zum Mittelpunkt aller Empfindungen und Entscheidungen werden. Außerdem wird sich noch zeigen, dass jegliches Organ und jede Funktionseinheit in Anspruch genommen werden muss, um nicht aus Gründen mangelnder Effizienz reduziert oder gar körperlich abgebaut zu werden. Daher ist anzunehmen, dass der Algorithmus von Zeit zu Zeit aus Barmherzigkeit auch Bereiche mitnehmen muss, die eigentlich im Moment so gar nichts beizutragen haben, auf die man aber aus Gründen der Daseinsvorsorge nicht ganz verzichten will. Wenigstens die Basisfunktionen sollen erhalten bleiben – auch im Gehirn, wie wir später sehen werden.

      Aus dieser Sicht erübrigt sich die Diskussion darüber, ob nun irgendein Bauch-Gehirn die Psyche beeinflusst oder eher umgekehrt. Der Gedanke liegt nahe, dass der Algorithmus des Menschen neben seinen Routinetätigkeiten immer dann besonders anspringt, wenn Signale auftreten, die in ihrer Stärke eine bestimmte Erregungsschwelle überschreiten. Alles darunter ist langweilig und spielt keine Rolle.

       Ein Schaufensterbummel: Die Kleider und Röcke in den Auslagen lassen die junge Frau kalt. Sie entsprechen nicht dem, was sie sucht. Wie ein Blitz durchfährt es sie, als ihr ein Kleid ins Auge fällt, das genau ihrem inneren Suchmuster entspricht. Es hat eine heftige Resonanz zwischen ihren Wunschvorstellungen und der Realität im Schaufenster gegeben. Ein gewaltiger Schuss Belohnungssubstanz ergießt sich in ihre Seele. Euphorisch und höchst motiviert betritt sie den Laden.

      Resonanz, Belohnungssubstanz? Geduld, Geduld … Wie wäre es mit einer Antwort auf die Frage, wie viele verschiedene Persönlichkeiten nach diesem Gedankenmodell in einem Menschen schlummern? Nicht fünf, nicht zehn, sondern … unendlich viele, je nach Bedürfnislage, Umfeldbedingungen und Höhe des seelischen Pegels. Schon der geringste aus der Gewohnheit fallende Einfluss, wie der Schnitt in den Finger, aber auch stärker belastende oder vorher nie gekannte Situationen können ganz neue, zum Teil sogar völlig überraschende Verhaltensmuster offenlegen.

       Bei der Bundeswehr gab es regelmäßig Nachtübungen nach dem Muster »Stoßtrupp und Feldposten«. Das lief in etwa so: Ein Funkwagen, meist auf einer kleinen Anhöhe, sollte durch rundum verteilte Feldposten gegen Angriffe gegnerischer Stoßtrupps in Stärke von meist vier bis fünf Mann geschützt werden. Das hieß: Die eine Hälfte nistete sich gut getarnt rund um den Funkwagen ein, immer mit Überblick und Schussfeld, um die Stoßtrupps abzuwehren, die andere Hälfte versucht, die Kette der Feldposten mit List und Tücke zu durchbrechen, um an die Funkverschlüsselung zu kommen und den Funkwagen zu neutralisieren.

      Da liegt man nun stundenlang mehr oder weniger bewegungslos und starrt in die sich ausbreitende Dämmerung. So dunkel, dass die Farbzäpfchen im Auge versagen und das Bild durch die lichtempfindlicheren Stäbchen immer mehr schwarz-weiß wird wie früher bei den ersten Fernsehern. Schließlich sind fast nur noch konturlose Schatten zu erkennen. Plötzlich die Trugbilder: Ein Schreck durchfährt mich, haben sich dort nicht die Büsche bewegt, als wenn da einer durchkäme? Mein Algorithmus hat nicht nur die Situation selbst ausgewertet, er hat sogar schon vorausgedacht, was alles passieren könnte. Er drückte von sich aus den Alarmknopf und rüttelte mich auf. Ich muss es nun überprüfen und den Alarm wieder löschen. Und das immer wieder über Stunden hinweg. Unglaublich anstrengend.

      Der Stoßtrupp wird rechtzeitig erkannt, gestellt und gefangen genommen. Einer der Festgenommenen schlägt in seinem Frust, mit starrem Blick und ohne Sinn und Verstand, seinem »gegnerischen« Kameraden mit dem Gewehrkolben so hart über den Helm, dass das Griffstück abbricht. Es ist zum Glück nichts weiter passiert, aber der »Gegner« ist eigentlich sein Stubenkamerad und Freund, das hat er in seinem übernächtigten und tief frustrierten Zustand aber gar nicht wahrgenommen. Die Aggression auf den Frust hin musste einfach raus, egal wie

      Für mich das Wichtigste an meiner Zeit bei der Bundeswehr sind die richtungsweisenden Erfahrungen, wie sich Menschen in Grenzsituationen verhalten, wozu sie fähig sind und welchen körperlichen und seelischen Grenzen man selbst unterliegt – und wie wichtig es ist, sich auf seine Kameraden verlassen zu können. Es ist beeindruckend zu sehen, welch immense Schlagkraft selbst eine kleine Gruppe entwickelt, wenn sie optimal und intelligent zusammenarbeitet.

      Eine weitere Erfahrung aus dieser Zeit ist der Zweifel an der Annahme, dieser oder jener Mensch könne keiner Fliege etwas zuleide tun. In bekanntem ruhigem Fahrwasser mag Wohlverhalten leichtfallen, aber in Extremsituationen? Sturm, Wellen, Sandbänke, Untiefen? Den Gewehrkolben über den Kopf? Es ist kaum möglich vorherzusagen, wie sich ein Mensch in einer neuen, ihn möglicherweise körperlich oder seelisch überfordernden Situation verhalten wird, wie sein Algorithmus in einer kritischen Situation seine Prioritäten setzt – besonders dann, wenn der Mensch bereits seelisch angeschlagen ist.

      Zurück zum Schaufenstereffekt und der unwiderstehlichen Resonanz, die ein so sehr ersehntes Suchmuster auslöst, ganz gleich ob es eigentlich entbehrlich, unmoralisch oder gar kriminell ist:

      Eine der wichtigsten präventiven Maßnahmen besteht folgerichtig darin, Situationen zu meiden, die eine solch überbordende Resonanz und damit eine kaum mehr zu bändigende Motivation in Gang setzen könnten. Wenn die Prämisse z. B. Sparen lautet, dann am besten keine Schaufensterbummel mehr: Resonanz weg, aber Geld noch da. Doch was dann? Kann man auf die damit ebenfalls eingesparten erhebenden Gefühle einfach so verzichten?

      Die Schlussfolgerung: Der Mensch arbeitet mit einem biologischen Algorithmus als Verhaltensrechner: Sein Gehirn ist die Hardware, sein Algorithmus die Software.

      Was ist nun erste Aufgabe eines Algorithmus? Sich ein realistisches Bild seiner inneren und äußeren Umgebung zu verschaffen – das ist der Klassiker beim Aufwachen: Wo bin ich? Was ist los?

      Wie schwer sich eine solche Aufgabe darstellt, lässt sich erst so richtig einschätzen, wenn man eine derartige Standortbestimmung mit einem Roboter versucht, z. B. mit einem humanoiden Roboter wie meinem kleinen Roby. Er ist nicht viel mehr als einen halben Meter groß. Auf mein fröhliches »Hi Roby, wie gehts?«, schaut er mich mit großen Augen an, verharrt kurz, bis seine Gesichtserkennung mich identifiziert hat, und begrüßt mich mit den Worten »Ich kenne dich, du bist Wolf. Wie geht es dir heute, Wolf?« Das sind die einfacheren Übungen.

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