Название: Rubinrot
Автор: Керстин Гир
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Учебная литература
isbn: 9783401800141
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»Ich werde es ihr ausrichten.«
»Hör auf, mit deinem imaginären Freund zu sprechen«, sagte Charlotte. »Sonst landest du irgendwann noch in der Irrenanstalt.«
Okay, ich würde es ihr nicht ausrichten. Sie war ohnehin schon eingebildet genug.
»James ist nicht imaginär, er ist unsichtbar. Das ist ja wohl ein großer Unterschied!«
»Wenn du meinst«, sagte Charlotte. Sie und Tante Glenda waren der Ansicht, dass ich James und die anderen Geister nur erfand, um mich wichtig zu machen. Ich bereute es, ihnen jemals davon erzählt zu haben. Als kleines Kind war es mir allerdings unmöglich gewesen, über lebendig gewordene Wasserspeier zu schweigen, die vor meinen Augen an den Fassaden herumturnten und mir Grimassen schnitten. Die Wasserspeier waren ja noch lustig, aber es gab auch gruselig aussehende dunkle Geistgestalten, vor denen ich mich gefürchtet hatte. Bis ich begriff, dass Geister einem gar nichts anhaben können, hatte es ein paar Jahre gedauert. Das Einzige, was Geister wirklich tun können, ist, einem Angst einzujagen.
James natürlich nicht. Der war völlig harmlos.
»Leslie meint, es ist vielleicht ganz gut, dass James jung gestorben ist. Er hätte mit dem Namen Pimplebottom sowieso keine Frau abgekriegt«, sagte ich, nicht ohne mich zu vergewissern, dass James uns nicht mehr hören konnte. »Ich meine, wer will schon freiwillig Pickelpo heißen?«
Charlotte verdrehte die Augen.
»Er sieht allerdings nicht schlecht aus«, fuhr ich fort. »Und stinkreich ist er auch, wenn man ihm glauben darf. Nur seine Angewohnheit, sich ständig ein parfümiertes Spitzentaschentuch an die Nase zu halten, ist ein wenig unmännlich.«
»Wie schade, dass niemand außer dir ihn bewundern kann«, sagte Charlotte.
Das fand ich allerdings auch.
»Und wie dumm, dass du außerhalb der Familie über deine Absonderlichkeiten sprichst«, setzte Charlotte hinzu.
Das war wieder einmal so ein typischer Charlotte-Seitenhieb. Es sollte mich kränken und das tat es leider auch.
»Ich bin nicht absonderlich!«
»Natürlich bist du das!«
»Das musst du gerade sagen, Gen-Trägerin!«
»Ich quatsche das schließlich nicht überall herum«, sagte Charlotte. »Du hingegen bist wie Großtante Mad-Maddy. Die erzählt sogar dem Milchmann von ihren Visionen.«
»Du bist gemein.«
»Und du bist naiv.«
Streitend liefen wir durch die Vorhalle, vorbei am gläsernen Kabuff unseres Hausmeisters, hinaus auf den Schulhof. Es war windig und der Himmel sah aus, als ob es jeden Augenblick zu regnen anfinge. Ich bereute, dass wir nicht doch unsere Sachen aus den Spinden geholt hatten. Ein Mantel wäre jetzt gut gewesen. »Tut mir leid, der Vergleich mit Großtante Maddy«, sagte Charlotte etwas zerknirscht. »Ich bin wohl doch etwas aufgeregt.« Ich war überrascht. Sie entschuldigte sich sonst nie.
»Kann ich verstehen«, sagte ich schnell. Sie sollte merken, dass ich ihre Entschuldigung zu würdigen wusste. In Wahrheit konnte von Verständnis natürlich keine Rede sein. Ich an ihrer Stelle hätte vor Angst geschlottert. Aufgeregt wäre ich zwar auch gewesen, aber ungefähr so aufgeregt wie bei einem Zahnarztbesuch. »Außerdem mag ich Großtante Maddy.« Das stimmte wirklich. Großtante Maddy war vielleicht ein bisschen redselig und neigte dazu, alles viermal zu sagen, aber das war mir tausendmal lieber als das geheimnisvolle Getue der anderen. Außerdem verteilte Großtante Maddy immer großzügig Zitronenbonbons an uns.
Aber klar, Charlotte machte sich natürlich nichts aus Bonbons. Wir überquerten die Straße und hasteten auf dem Bürgersteig weiter.
»Starr mich nicht so von der Seite an«, sagte Charlotte. »Du wirst schon merken, wenn ich verschwinde. Dann machst du dein blödes Kreidekreuz und rennst weiter nach Hause. Aber es wird gar nicht passieren, nicht heute.«
»Das kannst du doch gar nicht wissen. Bist du gespannt, wo du landen wirst? Ich meine, wann?«
»Natürlich«, sagte Charlotte.
»Hoffentlich nicht mitten im großen Brand 1664.«
»Der große Brand von London war 1666«, sagte Charlotte. »Das kann man sich doch wirklich leicht merken. Außerdem war dieser Teil der Stadt damals noch gar nicht großartig bebaut, ergo hat hier auch nichts gebrannt.«
Sagte ich schon, dass Charlottes weitere Vornamen »Spielverderberin« und »Klugscheißerin« waren?
Doch ich ließ nicht locker. Es war vielleicht gemein, aber ich wollte das blöde Lächeln wenigstens für ein paar Sekunden von ihrem Gesicht radiert sehen. »Wahrscheinlich brennen diese Schuluniformen wie Zunder«, bemerkte ich angelegentlich.
»Ich wüsste, was ich zu tun hätte«, sagte Charlotte knapp und ohne das Lächeln einzustellen.
Ich konnte nicht anders, als sie für ihre Coolness zu bewundern. Für mich war die Vorstellung, plötzlich in der Vergangenheit zu landen, einfach nur Angst einflößend.
Egal zu welcher Zeit, früher war es doch immer fürchterlich gewesen. Ständig gab es Krieg, Pocken und Pest, und sagte man ein falsches Wort, wurde man als Hexe verbrannt. Außerdem gab es nur Plumpsklos und alle Leute hatten Flöhe und morgens kippten sie den Inhalt ihrer Nachttöpfe aus dem Fenster, ganz gleich, ob da unten gerade jemand langging.
Charlotte war ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet worden, sich in der Vergangenheit zurechtzufinden. Sie hatte nie Zeit zum Spielen gehabt, für Freundinnen, Shopping, Kino oder Jungs. Stattdessen hatte sie Unterricht erhalten im Tanzen, Fechten und Reiten, in Sprachen und Geschichte. Seit letztem Jahr fuhr sie überdies jeden Mittwochnachmittag mit Lady Arista und Tante Glenda fort und kam erst spätabends zurück. Sie nannten es »Mysterienunterricht«. Über die Art der Mysterien wollte uns allerdings niemand Auskunft geben, am wenigsten Charlotte selber.
»Das ist ein Geheimnis«, war wahrscheinlich der erste Satz gewesen, den sie fließend hatte sprechen können. Und gleich danach: »Das geht euch gar nichts an.«
Leslie sagte immer, unsere Familie habe vermutlich mehr Geheimnisse als Secret Service und MI 6 zusammen. Gut möglich, dass sie recht hatte.
Normalerweise nahmen wir den Bus von der Schule nach Hause, die Linie 8 hielt am Berkeley Square und von dort war es nicht mehr weit bis zu unserem Haus. Heute liefen wir die vier Stationen zu Fuß, wie Tante Glenda es angeordnet hatte. Ich hielt den ganzen Weg lang die Kreide gezückt, aber Charlotte blieb an meiner Seite.
Als wir die Stufen zur Haustür erklommen, war ich beinahe enttäuscht. Hier endete nämlich mein Part an der Geschichte schon wieder. Ab jetzt würde meine Großmutter die Sache übernehmen.
Ich zupfte Charlotte am Ärmel. »Sieh mal! Der schwarze Mann ist wieder da.«
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