Название: Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band
Автор: Gerhard Henschel
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Контркультура
isbn: 9783455005011
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Franz-Josef Strauß war aus München zugeschaltet worden und saß also nur in einem Fernsehgerät mit am Tisch der ARD.
Renate erhielt einen Anruf von Olaf, und hinterher erzählte sie, der sei schon betüdelt, aber einfach süß. In genau 109 Stunden werde sie wieder bei ihm sein. Und dann zog sie mit Gustav zu einer Wahlparty der Jusos los.
Mama, Volker und Wiebke fuhren zurück nach Meppen. Ich selbst hatte mir gewünscht, mal wieder eine Woche lang in Jever bleiben zu dürfen, und ich teilte mir das Kellerzimmer mit Renate, die allerdings erst spät und nicht gerade nüchtern angetorkelt kam.
Vorläufiges amtliches Endergebnis: SPD 42,6 %, CDU/CSU 48,6 %, FDP 7,9 %, Sonstige 0,9 %. Die Koalitionsregierung hatte eine Mehrheit von acht Sitzen, und Helmut Kohl, der sich trotzdem als Wahlgewinner betrachtete, war sauer auf die Freidemokraten, weil die sich nicht mit ihm an den Verhandlungstisch setzen wollten.
Ein besseres Ergebnis hatte die Union bisher tatsächlich nur ein einziges Mal erreicht, in der Ära Adenauer. Wie es damals zugegangen war, konnte man einem alten, in Opas Bücherschrank vorrätigen Sammelband mit den denkbar drögsten Adenauer-Anekdoten entnehmen. Einmal hatte Konrad Adenauer sich im Bundestag mit dem kommunistischen Abgeordneten Heinz Renner gefetzt. »Da lachen ja die Hühner, Herr Bundeskanzler«, hatte Renner ausgerufen und darauf von Adenauer zu hören bekommen: »Dann lachen Se mal, Herr Renner.«
Vollkommen hirnrissig war schon der Titel dieses Buchs: »… gar nicht so pingelig, m.D.u.H.« Wobei »m.D.u.H.« als Abkürzung der Floskel »meine Damen und Herren« auf dem Schutzumschlag stand.
Im Wahlkreis Emsland hatte die CDU 62,2 % der Zweitstimmen gekriegt, und das Direktmandat war natürlich an den christdemokratischen Kandidaten gegangen, Rudolf Seiters aus Papenburg. Im Emsland hätte die CDU auch ’n Besenstiel aufstellen können.
Von dem Taschengeld, das mir von Mama zugemessen worden war, kaufte ich mir bei Tolksdorff ein Buch über Lenin, der in Rußland 1917 die Oktoberrevolution angezettelt hatte. Vorher war er, wie ich aus dem Buch erfuhr, auch einmal in London gewesen und hatte den Stadtplan penibel genug studiert, um selbst Einheimische durch genaue Ortskenntnisse verblüffen zu können. In London! Ich dagegen hätte nicht mal sagen können, wo genau die Meppener Kuhstraße verlief.
Geschildert wurde in dem Buch auch, wie Lenin die Menschewiki ausmanövriert und die Macht an sich gerissen hatte. Die Angehörigen der Zarenfamilie waren 1918 erschossen und die zerhackten Leichen mit Benzin und Schwefelsäure übergossen und verbrannt und dann in einen Sumpf geschmissen worden.
Alle diejenigen abzuschlachten, die im Kampf gegen uns verwundet wurden, ist das Gesetz des Bürgerkriegs.
Das hatte ein Leitartikler der Iswestija geschrieben, und es waren Zehntausende liquidiert worden, von Erschießungskommandos der Tscheka, zackbumm, ohne Gerichtsverfahren und Grabreden. Im Hauptquartier des Moskauer Sowjets hatte 1918 ein Arbeiter die Erkennungsmerkmale eines todeswürdigen Bourgeois zusammengefaßt: »Ich würde einfach in sein Haus gehen und in seine Töpfe gucken. Wenn Fleisch darin ist, ist er ein Volksfeind und müßte an die Wand gestellt werden.«
Irgendwann hatte auch Jever mal zu Rußland gehört, aber diese Zeit lag zum Glück schon lange zurück. Sonst hätte uns jetzt bei einer Razzia der Rotarmisten vielleicht bereits der Geruch der von Oma in der Pfanne geschmurgelten Bratwürste ans Messer geliefert.
Wie er nach der Revolution mit den Beamten des alten Regimes umspringen werde, hatte Lenin 1908 einem Freund erläutert: »Wir werden den Mann fragen, ›wie stellst du dich zu der Revolution? Bist du dafür oder bist du dagegen?‹ Wenn er dagegen ist, werden wir ihn an die Wand stellen. Ist er dafür, so werden wir ihn willkommen heißen und ihn auffordern, mit uns zu arbeiten.« Und die Krupskaja, Lenins Frau, hatte dazu angemerkt: »Ja und ihr werdet selbstverständlich die wertvolleren Menschen erschießen, weil sie den Mut haben, zu ihrer Überzeugung zu stehen.«
Und so hatten die Kommunisten die zaristische Diktatur durch einen Staat ersetzt, in dem nur Arschkriecher nicht ständig um ihr Leben bangen mußten.
»Was liest’n du da Schönes?« fragte mich Gustav, als er das Wohnzimmer nach seinem Teerkocher durchsuchte.
Ich hielt das Buch hoch: »Lenin – Geburt des Bolschewismus«.
»Das lies man weiter«, sagte Gustav.
Er selbst las momentan ein Buch aus der Serie Bonn aktuell (»Hans Friedrichs – Staranwalt der Marktwirtschaft«). Diese Bücher konnte man, wie mir Gustav mitteilte, kostenlos in Bonn bestellen: »Postkarte genügt.«
Wieso erfuhr ich das erst jetzt? Ich wetzte noch am gleichen Tag zur Post und orderte beim Auswärtigen Amt ein solches Buch über Hans-Dietrich Genscher, und bei der Bundeszentrale für politische Bildung abonnierte ich die Heftreihe Informationen zur politischen Bildung. Die gab es nämlich ebenfalls umsonst.
Nachdem Renate abgedampft war, blieb ich als letzter Vertreter der Familie Schlosser in Jever zurück und mußte ganz alleine in dem Gästezimmer im Keller schlafen. Einmal lag ich da mit meinem Buch und ahnte nichts Böses, als ich mitten über meine Bettdecke eine fette, schwarzhaarige Spinne stolzieren sah. Mit einem Wuppdich sprang ich aus der Falle, unwillkürlich, ohne groß zu überlegen, und ich schaltete das Deckenlicht an und wich noch einmal einen halben Meter zurück.
Und nun? Was hätte Lenin wohl getan, nach den Gesetzen des Bürgerkriegs?
Für einen Mutanten aus dem niederen Tierreich und mich war dieses Gästebett auf jeden Fall zu klein. Einer von uns beiden mußte weichen, und ich wußte auch schon wer, aber ich hatte meine liebe Mühe, die Spinne wiederzufinden. Ich drehte Bettdecke und Kopfkissen vorsichtig um, und ich wuchtete sogar die Matratze hoch, doch die Spinne blieb unauffindbar, und das war keine geringe Leistung im Versteckspielen für ein Raubtier mit so vielen und so langen Beinen.
Schließlich ging ich selbst auf alle viere, um auch das Gelände unterm Bett zu kontrollieren, wobei ich die Nachttischlampe zuhilfenahm, und da sprotzelte was, und die Glühbirne war hinüber.
Womit hatte ich nun das wieder verdient?
Den Rest der Nacht verbrachte ich in dem anderen Gästebett.
Oma zeigte morgens kein Verständnis für die Nöte, die ich ausgestanden hatte. »Spinne am Abend, erquickend und labend«, sagte sie, und damit hatte sich die Sache.
Bei einer langen Radtour durchs Wangerland dozierte Gustav über die sogenannte Spiegel-Affäre von 1962: Da hätten Adenauer und Strauß nach einem kritischen Bericht über die Stärke der Bundeswehr die Pressefreiheit auszuhebeln versucht und den Spiegel-Chef Rudolf Augstein verhaften lassen, wegen »Landesverrat«, aber diese Anschuldigung sei an den Haaren herbeigezogen gewesen. Strauß habe dann im Parlament die Lüge aufgetischt, daß er mit der ganzen Affäre nichts zu tun habe, »im Wortsinne nichts«, aber damit sei er nicht durchgekommen. »Lügen haben kurze Beine«, sagte Gustav, »und aus diesem Grunde mußte Strauß alsbald die Amtsgeschäfte als Verteidigungsminister niederlegen …«
In einer Ortschaft namens Stumpens kehrten wir in ein stilles Wirtshaus ein, wo Gustav sich ein Jever Pilsener bestellte und ich mir ’ne Fanta, auf Gustavs Einladung.
In der Ecke stand eine Musikbox mit säuischen Schlagertiteln. »Bumsfallera« lautete einer. Ich opferte fünfzig Pfennig und drückte die Taste F7. Und schon tschingbummte es durch die Kneipe: »General СКАЧАТЬ