Название: Graues Land
Автор: Michael Dissieux
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783969441619
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All diese Dinge gehörten zu meinem Leben eben dazu. Und genauso haben Gott und seine Prediger dazugehört.
Aber er war nie etwas Besonderes für mich gewesen. Was die anderen in ihm und seinem Wirken gesehen hatten, konnte ich tief in meinem Innern nie nachvollziehen.
Warum ich ausgerechnet jetzt das Wort an ihn richte, kann ich nicht sagen.
Ein Mann mit meinem Glauben sollte der erste sein, der sagt, Gott hat sich von seiner Schöpfung abgewendet. Unter normalen Umständen müsste ich ihm vorwerfen, dass er die Menschen im Stich gelassen hat. Und wahrscheinlich hätte ich das auch wirklich lautstark getan.
Würde hinter der Tür nicht Sarah liegen.
Sie war alles, was mir noch geblieben ist. Gott hatte mir alles genommen. Die Geräusche und Gerüche der Welt, so wie ich sie seit siebzig Jahren kenne. Er hat mir das Licht genommen und die behagliche Wärme. Und nicht zuletzt jegliche Hoffnung auf das Erleben meiner Zukunft.
Nur Sarah hat er mir gelassen, auch wenn sie nicht mehr dieselbe ist wie früher.
Die Worte, die ich an Gott richte, sind kein Gebet, sondern einfach nur eine Bitte. Ich wünsche mir, wenn ich den Raum betrete und mich an ihr Bett setze, ihren Atem zu spüren und zu sehen, wie sich ihre Brust schwach hebt und senkt.
Es werden nie Gebete sein. Und auch keine Fragen nach dem Warum.
Einfach nur der Wunsch, nicht völlig allein auf der Welt zurückgelassen zu werden.
Wenn Gott nicht tot ist, wird er mir diese kleine Bitte erfüllen.
Als ich die Tür mit meiner Hüfte aufstoße, schlägt mir abgestandene Luft entgegen. Eine trockene Wärme streicht über mein Gesicht, und der säuerliche Geruch von Schweiß und Urin steigt mir in die Nase.
Die Tür quietscht leise in den Angeln.
Wieder ein Geräusch, das mich an bessere Tage zurückdenken lässt.
Sarah hatte mich oft darum gebeten, etwas gegen das nervtötende Quietschen zu unternehmen. Und immer habe ich nur genickt, und es dann vergessen.
Durch den Spalt der geschlossenen Holzläden vor dem Fenster kann ich einen letzten, dunkelgrauen Streifen Tageslicht erkennen. Als versuche eine brackige Masse durch die Ritzen ins Zimmer zu sickern. Auf einem Tisch in der Ecke brennt eine einzelne Kerze. Deren Flamme beginnt hektisch zu tanzen, als die stille Luft des Raumes von mir durcheinandergewirbelt wird.
Plötzlich erwachen die starren Schatten an den Wänden zu verzweifeltem Leben. Der alte Eichenschrank, den wir uns nur ein paar Tage nach unserer Hochzeit gekauft hatten. Der kleine Schminktisch, den Sarah noch bis vor einigen Jahren benutzt hatte, um sich hübsch zu machen. Oder aber die massigen Pfosten des Bettes, die wie stumme Wächter an der Wand emporragen, und die das Liebste beherbergen, das ich je im Leben besessen habe.
Ich stelle die Petroleumlampe neben die Kerze und blicke zum Bett hinüber.
Von irgendwo draußen dringt langgezogenes Heulen in den Raum.
Mein Blick wandert kurz zu dem finsteren Spalt zwischen den Holzläden. Dann wieder zum Bett.
Alles, was ich erkennen kann, ist die dicke Federdecke, über deren Muster die Schatten der Kerze und der Lampe huschen.
Als ich näher trete, bemerke ich, wie sich die Decke kaum merklich hebt und senkt.
Erleichtert atme ich aus und registriere erst jetzt, dass ich die ganze Zeit, seit ich den Raum betreten habe, die Luft angehalten habe.
Ein kurzer Blick zur Decke, ein ebenso kurzes und schlichtes `Danke´ an jenes Wesen, das andere als Gott bezeichnen.
Die Federn des alten Bettes quietschen leise, als ich mich neben Sarah setze. Das Tablett lege ich auf meinen Knien ab und halte es mit einer Hand fest, während ich mit der anderen zögerlich nach Sarahs blassem Gesicht taste.
Sie blickt in meine Richtung. Das macht sie immer, wenn ich mich neben sie setze. Aber manchmal bin ich mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt wahrnimmt. Vielleicht ist es auch nur Zufall, dass ihr Kopf auf diese Seite geneigt ist.
Ihre Augen blicken ausdruckslos, die Pupillen sind mit einer milchigen Schicht überzogen. Früher einmal waren sie von einem bestechenden Blau gewesen.
Oftmals liest man in romantischen Romanen von tiefen Seen, die man in den Augen wunderschöner Frauen finden kann. Und dass man auf ewig darin versinken könnte, hinabtauchen bis auf den Grund des Paradieses.
Bei Sarah waren diese Worte keine leeren Phrasen gewesen. Ihre Augen hatten geleuchtet und wurden von einem kindlichen, neugierigen Leben beseelt. Wenn sie einen angeblickt hatte, war die Welt um einen herum zur Bedeutungslosigkeit degradiert worden. So klischeehaft sich das auch anhören mag. Ein Blick in dieses unergründliche Blau - in diese tiefen, geheimnisvollen Seen - und man war nur noch von dem Wunsch besessen, absolut alles für den Besitzer dieser herrlichen, kraftvollen Augen zu tun.
Heute ist der Spiegel ihrer Seele zerbrochen. Über die blaue See hat sich immerwährender, dichter Nebel gelegt, der jede Farbe in tristes Grau verwandelt.
Ihr Mund ist offen, ihre Lippen rissig und grau. Saurer Atem, wie man ihn vom morgendlichen Erwachen her kennt, schlägt mir in schwachen Zügen entgegen.
Ich streiche durch ihr Haar, das ihr zerzaust in die Stirn hängt.
Wann immer es geht, versuche ich ihr das Haar zu kämmen. Doch meistens schaffe ich es nur, sie zu waschen und umzuziehen, bevor sie wieder ihre Augen schließt und einschläft.
Mit zärtlichen Bewegungen versuche ich, ihre grauen Locken zu ordnen. Die Haut ihrer Stirn ist trocken und schuppig. Um ihre Augen haben sich tiefe Ringe gebildet.
»Sarah«, flüstere ich leise und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Der Gestank von Schweiß und frischen Fäkalien steigt mir in die Nase.
»Liebling. Ich habe dein Essen mitgebracht.«
Ich drehe mich in ihre Richtung, so dass das Tablett zwischen uns auf meinen Knien balanciert.
»Und frischen Tee.«
Die Erinnerung, die der Geruch der Teekanne mit sich trägt, tut immer noch so weh wie am ersten Tag. Eine einzelne Träne rollt über meine Wange.
»Komm, Liebling. Lass uns essen, bevor es kalt wird.«
Der Haferschleim ist schon fast abgekühlt. Ich lege meine linke Hand unter ihren Kopf und stütze Sarah, während ich mit der rechten den Löffel in den Haferschleim tauche.
Ein leises Stöhnen tröpfelt zwischen ihren spröden Lippen hervor, als ich den Löffel in ihrem Mund verschwinden lasse.
Ob sie mich wahrnimmt, weiß ich nicht. Ebenso wenig, ob sie spürt, dass sie etwas zu Essen bekommt.
Manchmal bewegen sich ihre Pupillen unter der milchigen Schicht ihrer Augen.
Doch meistens СКАЧАТЬ