Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk
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Название: Gesang der Fledermäuse

Автор: Olga Tokarczuk

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783311701231

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СКАЧАТЬ begriff ich. Aha, ich sollte um Bigfoot herum die Lichter aufstellen und sie anzünden, dann würde es ernst und feierlich werden. Vielleicht könnten die Flammen den Tränen helfen zu fließen und in die langen Schnurrbärte zu sickern. Das würde allen gut tun. Ich hantierte also mit den Kerzen herum, und dabei fürchtete ich, sie könnten mein Engagement falsch verstehen. Sie hielten mich offenbar für die Zeremonienmeisterin, für die Anführerin einer Bestattungsveranstaltung, denn als die Kerzen brannten, wurde es plötzlich still, und alle hefteten ihre traurigen Blicke auf mich.

      »Fangen Sie an«, flüsterte der eine, den ich zu kennen glaubte. Ich wusste nicht, was er meinte.

      »Fangen Sie an zu singen.«

      »Was soll ich denn singen?« Ich wurde ernstlich nervös. »Ich kann nicht singen.«

      »Egal was«, sagte er, »am besten die Ewige Ruhe.«

      »Warum ich?«, flüsterte ich gereizt.

      Und der neben mir stehende Mann sagte entschlossen: »Weil Sie eine Frau sind.«

      Ach so. So sind heute also die Akzente verteilt. Ich wusste zwar nicht, was mein Geschlecht mit dem Singen zu tun haben könnte, aber ich wollte mich ausgerechnet in diesem Moment auch nicht gegen die Tradition auflehnen. »Der Herr gebe ihm die Ewige Ruhe.« Ich erinnerte mich an dieses Lied von anderen Begräbnissen in meiner Kindheit. Als Erwachsene war ich kaum noch auf Begräbnisse gegangen. Ich konnte mich nicht mehr an den Text erinnern. Es stellte sich jedoch heraus, dass es genügte, nur den Beginn zu summen, und der Chor der rauen Stimmen fiel unverzüglich ein und kam meinem kläglichen Stimmchen zu Hilfe. Daraus entstand eine wacklige, falsche Mehrstimmigkeit, die allerdings bei jeder Wiederholung an Kraft gewann. Auch mir selber wurde plötzlich leichter zumute, meine Stimme wurde fester, und schnell fielen mir die schlichten Worte vom Ewigen Licht wieder ein, in dem, wie wir alle glaubten, Bigfoot nun ruhte.

      So sangen wir etwa eine Stunde lang, immer dasselbe, bis die Worte ihre Bedeutung verloren hatten, als seien sie Steinchen in einem Meer, die, endlos von den Wogen glattgeschliffen, einander glichen wie zwei Sandkörner. Tatsächlich verschaffte uns das Erleichterung, der vor uns liegende Leichnam wurde immer unwirklicher, bis er nichts anderes mehr war, als der Vorwand für diese Begegnung schwer arbeitender Menschen auf unserem windigen Hochplateau. Wir sangen vom Licht, das es irgendwo in der Ferne gibt und das vorerst nicht sichtbar ist. Um es zu erblicken, braucht man nichts anderes zu tun, als zu sterben. Jetzt sehen wir es durch eine Scheibe im Zerrspiegel, doch einmal werden wir ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Und dieses Licht wird uns umarmen, denn es ist unsere Mutter, und aus ihm sind wir entstanden. Jeder von uns trägt ein Teilchen davon in sich, auch Bigfoot. Drum sollte der Tod für uns etwas Tröstliches sein.

      Das alles kam mir beim Singen in den Sinn, doch eigentlich habe ich niemals an eine wie auch immer geartete persönliche Zuteilung des Lichts geglaubt. Kein Herrgott wird sich damit befassen, kein himmlischer Buchhalter. Keine Einzelperson könnte so viel Leid aushalten, am wenigsten eine Allwissende. Sie müsste unter dem Druck dieses Schmerzes zerbrechen, es sei denn, sie hätte sich beizeiten mit einem wirksamen Verteidigungsmechanismus ausgerüstet, wie der Mensch. Nur eine Maschine wäre imstande, den ganzen Schmerz der Welt auszuhalten. Nur eine Maschinerie, simpel, effektiv und zweckmäßig. Und da nun sowieso alles mechanisch ablaufen sollte, waren unsere Gebete unnötig.

      Als ich hinausging, sah ich, dass die Schnurrbärtigen, die den Pfarrer gerufen hatten, ihn gerade vor dem Haus begrüßten. Er hatte nicht gleich herkommen können, war in den Schneeverwehungen stecken geblieben, und erst jetzt war es gelungen, ihn mit einem Traktor zu holen. Pfarrer Raschel (so nannte ich ihn in Gedanken) schüttelte seine Soutane und sprang mit einer Dankesgeste vom Traktor. Ohne jemanden anzusehen ging er rasch ins Haus. Er ging so nahe an mir vorbei, dass mich sein Geruch anwehte: Kölnisch Wasser und Rauch aus dem Kamin.

      Matoga hatte alles ausgezeichnet organisiert. In seinem Arbeitspelz, als Zeremonienmeister, schenkte er aus einer großen chinesischen Thermoskanne Kaffee in Plastikbecher, die er an die Trauernden verteilte. Wir standen vor dem Haus und tranken heißen, süßen Kaffee.

      Kurz darauf kam die Polizei, zu Fuß, denn sie hatten ihren Wagen, der keine Winterreifen hatte, auf dem Asphaltweg zurücklassen müssen.

      Es waren zwei uniformierte Polizisten und einer in Zivil, in einem langen schwarzen Mantel. Bevor sie in ihren schneeverklebten Stiefeln schwer atmend das Haus betraten, waren wir alle hinausgegangen. Meiner Meinung nach war das eine Bezeugung der Höflichkeit und der Wertschätzung gegenüber der Obrigkeit. Die beiden Uniformierten waren kühl und förmlich, und man sah ihnen an, dass sie ihren Ärger über den Schnee, den langen Weg und die allgemeinen Umstände dieses Falls mühsam unterdrückten. Wortlos klopften sie ihre Stiefel ab und verschwanden im Haus. Der im schwarzen Mantel trat unvermittelt zu mir und Matoga.

      »Guten Tag, hallo Papa.« Wirklich, er hatte »hallo Papa« gesagt, und zwar zu Matoga. Ich hätte nie gedacht, dass Matoga einen Sohn bei der Polizei haben könnte, einen Sohn, der einen so komischen schwarzen Mantel trug. Matoga stellte uns einander ziemlich ungeschickt vor, er war verlegen. Sie traten rasch beiseite, ich hatte den Namen des Schwarzmantels kaum verstanden.

      Dann hörte ich, wie der Sohn den Vater mit Vorwürfen überhäufte.

      »Warum, um Himmels willen, hast du ihn angefasst? Hast du nie Filme gesehen? Jeder weiß doch, dass man, ganz egal was passiert, eine Leiche nicht anfasst, bevor die Polizei da war.«

      Matoga wehrte sich schwach, als hätte die Tatsache, dass er mit seinem Sohn sprach, ihm alle Kraft geraubt. Ich hätte eher gedacht, dass es umgekehrt sein müsste, dass man aus einem Gespräch mit dem eigenen Kind viel Kraft schöpft.

      »Er hat schrecklich ausgesehen, du hättest dasselbe getan wie ich. Er ist an irgendwas erstickt, und er war ganz verkrümmt, dreckig … er war schließlich unser Nachbar, und wir konnten ihn doch nicht einfach so am Boden liegen lassen wie ein, wie …« Er rang nach Worten.

      »Ein Tier.« Ich war zu ihnen getreten und vervollständigte den Satz. Es war unerträglich, wie der Schwarzmantel seinen Vater zurechtwies. »Er ist an einem Knochen von einem gewilderten Reh erstickt. Die Rache aus dem Jenseits.«

      Der Schwarzmantel streifte mich mit einem Blick und fuhr fort: »Ich könnte dich anzeigen, weil du die Ermittlungen erschwert hast. Sie übrigens auch.« Er wandte sich an mich.

      »Du machst wohl Witze. Das wäre lächerlich. Der Sohn als Staatsanwalt.«

      Der Sohn beschloss, das unangenehme Gespräch zu beenden.

      »Okay, Papa. Ihr werdet dann später beide eine Aussage machen müssen. Es wird wahrscheinlich eine Obduktion geben.«

      Er klopfte Matoga auf die Schulter mit dieser zärtlichen Dominanzgeste, als hätte er gesagt: »Okay, Alterchen, jetzt lass mich mal die Sache in die Hand nehmen.«

      Dann verschwand er im Haus des Toten, und ich, die ich keine Lösung abwarten wollte, ging heim, mit rauer Kehle. Ich hatte genug.

      Aus meinen Fenstern sah ich den Schneepflug vom Dorf heraufkommen. Wir nannten ihn immer »die Weißrussin«. Die Weißrussin ermöglichte es dem Leichenwagen, einem langen, flachen schwarzen Fahrzeug mit dunklen Gardinen, gegen Abend fast bis zum Haus vorzufahren. Allerdings nicht ganz. Denn als ich gegen vier Uhr, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, auf die Veranda trat, sah ich in der Ferne einen bewegten schwarzen Fleck auf dem Weg – es waren die schnurrbärtigen Männer, die den Wagen mit dem Leichnam des Kollegen tapfer den Weg hinaufschoben, zur ewigen Ruhe im Ewigen Licht.

      *

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