Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk
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Название: Gesang der Fledermäuse

Автор: Olga Tokarczuk

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783311701231

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СКАЧАТЬ Dutt zusammengedreht. Wenn ich sie nicht so gut kennen würde, läse ich sicher ihre Bücher. Da ich sie aber besser kannte, fürchtete ich mich davor. Vielleicht hatte sie meine geliebten Orte auf eine Art und Weise beschrieben, die ich nicht begriff. Vielleicht waren meine geliebten Orte für sie etwas ganz anderes als für mich. In irgendeinem Sinn sind Personen wie sie, die schreiben können, gefährlich. Sofort drängt sich einem der Verdacht auf, dass sie nicht echt sind, dass so eine Person nicht sie selbst ist, sondern nur das Auge, das in einem fort schaut und das Gesehene in Sätze verwandelt. Auf diese Art raubt sie der Realität das Allerwichtigste, nämlich das Unaussprechliche.

      Sie verbrachte hier die Zeit bis Ende September und ging kaum aus dem Haus. Nur manchmal, wenn die Hitze trotz des Windes unerträglich und klebrig geworden war, bettete sie ihren fahlen Körper in einen Liegestuhl und verharrte reglos in der Sonnenglut, wovon sie noch grauer wurde. Wenn ich nur ihre Füße sehen könnte, vielleicht würde sich herausstellen, dass auch sie kein menschliches Wesen war, sondern eine andere Variante des Daseins. Eine Nixe des Logos oder eine Sylphide. Manchmal bekam sie Besuch von einer Freundin, einer dunkelhaarigen starken Person mit grell geschminkten Lippen. Die hatte ein braunes Muttermal im Gesicht, vermutlich ein Zeichen dafür, dass Venus zum Zeitpunkt ihrer Geburt im ersten Haus stand. Sie kochten gemeinsam, als seien ihnen wieder die althergebrachten Familienrituale eingefallen. Im letzten Jahr hatte ich oft mit ihnen gegessen: scharfe Kokosmilchsuppe, Kartoffelpuffer mit Pfifferlingen. Sie kochten gut und schmackhaft. Die Freundin verhielt sich sehr zärtlich zu der aschgrauen Frau, der ich den Namen Grisella gegeben hatte. Sie kümmerte sich um sie wie um ein Kind. Sicher wusste sie genau, was sie tat.

      Das kleinste Haus am feuchten Waldrand hatte vor Kurzem eine lärmende Familie aus Wrocław gekauft. Sie hatten zwei halbwüchsige, dickliche, verzogene Kinder und ein Lebensmittelgeschäft in Krzyki. Das Haus sollte umgebaut und in einen polnischen Gutshof verwandelt werden – es sollten Säulen und eine Galerie angebaut werden, und auf der Hinterseite sollte es einen Swimmingpool geben. Das erzählte mir der Vater. Vorerst wurde alles mit einem aus Beton gegossenen Zaun eingefasst. Sie zahlten großzügig und baten mich, täglich zu überprüfen, ob niemand eingebrochen sei. Das Haus selbst war alt und kaputt, es sah aus, als wollte es in Ruhe gelassen werden, um friedlich in die Zukunft zu bröckeln. In diesem Jahr stand ihm jedoch eine Revolution bevor. Es wurden Berge von Sand geliefert und vor dem Tor abgeladen. Der Wind verwehte ständig die Abdeckfolie, und diese Folie wieder zu richten kostete mich viel Anstrengung. Auf ihrem Grundstück befand sich eine kleine Quelle, und dort wollten sie Fischteiche anlegen und einen Grill mauern. Sie hießen Studzienni. Ich überlegte lange, ob ich ihnen einen eigenen Namen geben sollte, doch ich kam zu der Erkenntnis, dass es einer der beiden Fälle war, wo der Name bereits perfekt zum Menschen passte. Es waren wirklich Brunnenmenschen – wie Menschen, die vor langer Zeit in einen Brunnen gefallen waren, sich nun am Brunnengrund ihr Leben einrichteten und dabei glaubten, der Brunnen sei die ganze Welt.

      Das letzte Haus, das schon ganz nah am Weg lag, war zu vermieten. Meistens waren es junge Eheleute mit Kindern, die am Wochenende hier die Natur suchten. Manchmal Verliebte. Es kam auch vor, dass verdächtige Typen sich dort einmieteten, die sich abends volllaufen ließen, die Nacht mit ihrem betrunkenen Gegröle erfüllten und dann bis mittags schliefen. Sie alle huschten wie Schatten durch unser Lufcug. Für eine Stippvisite. Das kleine, unpersönlich renovierte Haus gehörte dem reichsten Menschen in der Gegend, dessen Besitztümer in jedem Tal und auf jedem Hochplateau verstreut waren. Der Typ nannte sich Wnętrzak – und das war eben der zweite Fall, in dem der Name ganz von selbst zu seinem Träger passte. Angeblich hatte er das Haus wegen des Grundstücks gekauft, auf dem es stand. Angeblich kaufte er Grundstücke, um später einmal einen Steinbruch daraus zu machen. Angeblich war das ganze Hochplateau für einen Steinbruch geeignet. Angeblich leben wir hier auf einer Goldgrube, und das Gold heißt Granit.

      Ich musste mich wirklich anstrengen, um den Überblick über das Ganze hier zu behalten. Dazu kam noch die kleine Brücke, ich musste nachsehen, ob sie noch in Ordnung war und ob das Wasser nicht die Stützen unterspülte, die bei der letzten Überschwemmung dazugebaut worden waren. Ob keine Hohlräume entstanden waren. Wenn ich meinen Rundgang beendet hatte, blickte ich mich noch einmal nach allen Seiten um, und eigentlich sollte ich froh sein, dass es das alles hier gab. Es hätte ja auch einfach nicht da sein können. Es hätte nur das Gras da sein können, große Büschel windgepeitschtes Steppengras und die Rosetten der Silberdisteln. So hätte es auch aussehen können. Oder überhaupt nichts – eine große Leere im kosmischen Raum. Vielleicht wäre das für alle sogar besser gewesen.

      Wenn ich auf meinen Rundgängen über die Felder und das Brachland gehe, dann stelle ich mir gerne vor, wie das alles in einer Million Jahren aussehen wird. Wird es dann noch die gleichen Pflanzen geben? Und die Farbe des Himmels, wäre sie noch genauso wie heute? Werden sich die tektonischen Platten verschoben haben, und wird sich hier eine hohe Bergkette auftürmen? Oder würde hier ein Meer entstehen, sodass man in den träge schwappenden Wellen gar nicht mehr von einem »Ort« sprechen könnte? Eines ist sicher – die Häuser hier wird es nicht mehr geben. Meine Bemühungen hier sind so gut wie nichts, sie haben auf der Spitze einer Stecknadel Platz, so wie auch mein Leben. Das muss ich mir vor Augen halten.

      Ein Stück weiter, wenn man unsere Umzäunungen hinter sich gelassen hatte, erschien die Landschaft wie verändert. Hier und dort ragten Ausrufezeichen in die Luft, wie eingeschlagene spitze Nadeln. Wenn mein Blick an ihnen hängen blieb, zitterten meine Lider, das Auge verletzte sich an diesen Holzbauten, die auf Feldern, auf Lichtungen und an Waldrändern in die Höhe schossen. Auf dem ganzen Hochplateau gab es acht Stück davon, ich kannte sie alle genau, denn ich tat mit ihnen dasselbe, was Don Quichotte mit den Windmühlen getan hatte. Sie waren aus über Kreuz genagelten hölzernen Bohlen zusammengezimmert, sie bestanden quasi aus lauter Kreuzen. Diese klobigen Gebilde hatten vier Beine, und auf diesen stand eine Hütte mit Luken oder Fenstern, aus denen geschossen wurde. Kanzeln. Schon immer hatte mich dieser Name irritiert und geärgert. Was für Lehren werden denn von diesen Kanzeln verkündet? Welches Evangelium? Ist das nicht der Gipfel des Hochmuts? Ist es nicht ein teuflischer Einfall, den Ort, von dem aus gemordet wird, Kanzel zu nennen?

      Wenn ich eine von ihnen vor mir sehe, schließe ich die Lider so fest, dass die Umrisse verschwimmen oder das ganze Gebilde fast verschwindet. Das tue ich, weil ich ihre Gegenwart nicht ertrage. Doch es stimmt, dass einer, der begehrt und nicht handelt, die Pest brütet. Das sagt unser Blake.

      Wenn ich so mit zusammengekniffenen Lidern vor einer Kanzel stehe, kann ich mich jederzeit umwenden, um die zackige, scharfe, haarfeine Linie des Horizonts zu sehen. Um über sie hinauszusehen. Dort ist Tschechien. Dorthin flüchtet die Sonne, wenn sie die Schrecknisse hier gesehen hat. Dort zieht meine Göttliche ihre Nachtbahn. Ja, so ist es, die Venus geht in Tschechien schlafen.

      Die Abende verbringe ich so: Ich setze mich in der Küche an meinen großen Tisch und widme mich meiner Lieblingsbeschäftigung. Auf dem großen Tisch steht der Computer, den ich von Dyzio bekommen habe und in dem ich vorwiegend ein Programm benutze. Ich brauche dazu die Ephemeriden, einen Notizblock und einige Bücher. Dazu etwas Trockenmüsli, das ich bei der Arbeit esse, und ein Kännchen Schwarztee, der einzige Tee, den ich trinke.

      Eigentlich könnte ich alles von Hand berechnen, und es tut mir sogar ein bisschen leid, dass ich es nie getan habe. Doch wer benutzt heute noch einen Rechenschieber?

      Wenn ich jedoch einmal in der Wüste irgendein Horoskop berechnen müsste, ohne Computer, ohne Elektrizität und ohne irgendwelche Geräte, dann könnte ich das. Ich bräuchte dazu nur meine Ephemeriden. Sollte mich also je einer fragen (leider wird es niemand tun), welches Buch ich auf eine unbewohnte Insel mitnähme, wäre meine Antwort: Die Ephemeriden der Planeten. 1920–2020.

      Es interessiert mich, ob man aus dem Horoskop eines Menschen sein Sterbedatum ersehen kann. Der Tod im Horoskop. Wie er aussieht. Wie er in Erscheinung tritt. Welche Planeten spielen die Rolle der Moiren? Hier unten, in der Welt des Urizen, gilt ein Gesetz. Vom Sternenhimmel bis hin zum moralischen Gewissen. Es ist ein strenges, erbarmungsloses СКАЧАТЬ