Von der politischen Berufung der Philosophie. Donatella Di Cesare
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Название: Von der politischen Berufung der Philosophie

Автор: Donatella Di Cesare

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783957578907

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СКАЧАТЬ und »bestirnten Himmel« Kants oder an den unheimlichen »Abgrund« Heideggers zu denken, jenen abgründigen Grund, auf dem die Existenz aufruht. So überraschend es zunächst scheinen mag: Die Philosophen fühlen sich in dieser Kinetik der Vertikalität – nach oben gerichtet oder in die Tiefe hinab – einer bewundernswert vielfältigen Symbolik zufolge besser aufgehoben, während sich die horizontale Bewegung als weitaus gewagter und von etlichen Zwischenfällen durchkreuzt erweisen wird.

      Der in den Himmel gerichtete Blick verrät ein Bestreben, das von Anfang an verbreitet gewesen sein muss: dasjenige, die Zukunft vorherzusagen. Diese Versuchung kannte auch Thales, der dabei jedoch zumindest ein kundiger Astronom war. Der Doxografie zufolge gelang es ihm, die Sonnenfinsternis des Jahres 585 v. u. Z. vorauszusagen (A 17). Eine indirekte Bestätigung dafür liefert eine andere berühmte Anekdote, die Aristoteles in seiner Politik wiedergibt. Deren Thema ist erneut die zur Schau gestellte Verachtung der Theorie, dieses Mal jedoch nicht seitens einer einzelnen thrakischen Magd, sondern der gesamten Gemeinschaft Milets. Zum ersten Mal wird hier ausdrücklich eine Anklage erhoben, der breiter und anhaltender Erfolg beschieden sein wird.

      »Aufgrund seiner Armut«, dia tên penian, hielten ihm die Mitbürger vor, so schreibt Aristoteles, dass die »Philosophie eine nutzlose Beschäftigung sei«, hôs anôphelous tês philosophias. Nun gelang es Thales aufgrund seiner astronomischen Berechnungen aber, eine reiche Olivenernte vorauszusagen. Da er gerade über ein wenig Geld verfügte, mietete er noch mitten im Winter, als noch keinerlei Nachfrage bestand, alle Ölpressen von Milet und Chios. Es kam der »rechte Augenblick«, der kairos, die Erntezeit. Plötzlich suchten alle händeringend nach Ölpressen. Thales vermietete diese sodann zu seinen Bedingungen und verdiente damit viel Geld. Der Himmel diente in diesem Fall also dazu, sich auf Erden zu orientieren.

      Das war die Antwort des Philosophen, der zeitweise in das Gewand des Geschäftsmannes schlüpft, der seine Reflexion und Spekulation aufgibt, um sich als Spekulant zu versuchen. Und dem dies auch gelingt, da er zuerst und weiter sieht als die anderen. Aber nicht das eingenommene Geld ist sein Ziel. Aristoteles kommentiert: Thales »habe damit bewiesen, dass es für Philosophen leicht sei, reich zu werden, wenn sie nur wollten, es jedoch dies nicht sei, wonach sie strebten« (Politik, 1259a, 5-8).

      Damit wird – nach dem Zwischenfall des Brunnens – die Befreiung des Thales angedeutet, der sogar das vorherzusehen vermochte, was eigentlich unvorhersehbar sein müsste, himmlische wie irdische Phänomene, Sonnenfinsternisse und Olivenernten, und der seine Berechnungen vorübergehend auf die Logik der Wirtschaft übertrug, um aufzuzeigen, dass diese nicht derjenigen der Philosophie entspricht. Das heißt jedoch nicht, dass sich die Spannungen zu den Mitbürgern abgeschwächt hätten. Sie können sich im Gegenteil nur verschärfen, wenn die jeweiligen Werte derart gegensätzlich ausgeprägt sind. Die Philosophie mag womöglich eine nutzlose Beschäftigung sein, doch erweist sie sich als eine subversive Bedrohung für die Stadt.

       Die Atopie des Sokrates

      Sonderbar, verschroben, außergewöhnlich, befremdlich – vielleicht ein Fremder? Zweifellos erstaunlich, unbegreiflich, irritierend. Sokrates ist fehl am Platz, außerordentlich, außer Ortes. Das griechische Epitheton, das nur für ihn geprägt worden zu sein scheint, lautet: atopos.21

      Was aber bedeutet atopia? Im Phaidros bezeichnet das Wort die vom Unerwarteten und Unüblichen erzeugte Verstörung. Atopia ist nicht nur eine Seelenregung, sondern charakterisiert denjenigen, der bei den anderen Befremden und Verwirrung hervorruft. So erzählt Alkibiades, der im Gastmahl eigentlich von den denkwürdigen Taten des Sokrates berichten will, schließlich nur von dessen einzigartigen, wunderlichen, exzentrischen Zügen, die deshalb im Gedächtnis der Zeitgenossen und der Nachgeborenen geblieben sind.22

      Sokrates ist das personifizierte philosophische Staunen, das thauma schlechthin. Er zieht an und stößt ab, er fasziniert und beunruhigt. Die von ihm hervorgerufene Wirkung wird mit dem Biss einer »Natter« oder mit einem Stromschlag verglichen, wie der von einem »Krampfrochen« erzeugte, der jeden betäubt oder erstarren lässt, der sich ihm nähert und ihn berührt. Sokrates selbst bezeichnet sich als eine stechende »Bremse«.23 Nur wenige erholen sich von diesen Bissen, Stichen, Schlägen und Stößen. Die meisten wanken unter der Last des Traumas und halten frustriert, enttäuscht und gekränkt inne.

      Sokrates ist der Archetyp des Philosophen. Das bedeutet, dass die Philosophie von Beginn an höchst befremdlich und verfremdend wirkt. Sie ist nichts für jedermann. Sie besänftigt nicht, sie tröstet nicht, beruhigt nicht. Für einige ist sie unnütze Ablenkung und kindischer Zeitvertreib, während andere in ihr ein gefährliches Spiel erblicken, das betäubt, berauscht und in den Ruin treibt (vgl. Gorgias, 484c-486a). Sie ist nicht leicht zu erlernen. Was wäre das auch für eine Lehre? Im Unterschied zu den Sophisten sagt Sokrates, dass er nichts wisse. Es wird nichts mitgeteilt – nur ein Schlag versetzt.

      Sokrates ist außerörtlich, fehl am Platz, atopos. Mit ihm betritt ein neuer Menschentyp die Bühne der Geschichte: der Philosoph.24 Aufgrund seiner einzigartigen Rätselhaftigkeit, die von einer langen Reihe an Philosophen wieder und wieder interpretiert wird, gelangt er zu unsterblichem Ruhm, auch wenn er keine Schriften hinterließ. Er hat jedoch auch nicht geschwiegen; im Gegenteil, er begründete eine neue Gattung: den Dialog. Nach seinem Tod versuchten seine Schüler, die ihn bei der Befragung seiner vielfältigen Gesprächspartner in Erinnerung behalten wollten, den unwiederholbaren mündlichen Dialog in schriftlicher Form wiederzugeben. Von dieser sokratischen Literatur sind jedoch nur Fragmente erhalten geblieben.25 Zwei Quellen wurden hingegen nahezu vollständig und unversehrt überliefert: Die Werke Xenophons, insbesondere die Memorabilien, sowie die platonischen Dialoge. Es war Platon, der ergebene Freund, der loyale und beharrliche Anhänger, der treue, sich mit seinem Lehrer identifizierende Schüler, der feinsinnige Portraitist, der das Bild des Sokrates so stilisierte, dass aus ihm jener neue Menschentyp erwuchs. Der Sokrates, den die Weltgeschichte kennt, ist der Sokrates Platons.26

      Wo aber hört Sokrates auf, und wo beginnt Platon? Wie lassen sich mit Gewissheit die von dem einen ausgesprochenen von den vom anderen niedergeschriebenen Worten unterscheiden? Wann also legt Platon die Maske des Sokrates an? Das sind die Fragen, die die Gelehrten lange Zeit umgetrieben haben und die dazu bestimmt sind, ohne Antwort zu bleiben. Denn der entscheidende Punkt ist ein anderer. Sokrates ist der erste Philosoph; mit ihm beginnt die Philosophie.

      Was für ein seltsamer Anfang ist das aber, zwischen dem erschütternden Schlag, unbestrittenem Nichtwissen und der endlosen Aufeinanderfolge von Fragen über Fragen? Es handelt sich um ein Wissen, das sich auf ein Nichtwissen gründet. So beginnt die Philosophie – oder besser: beginnt sie auch nicht. Denn wie könnte man mit einer Frage beginnen, deren Voraussetzungen immer in etwas anderem liegen und die aus dem Nichtwissen entspringt? Die Philosophie lässt keinen Beginn hinter sich – sie würde einen guten Ariadnefaden abgeben. Mehr noch: Sie hebt jeden Beginn auf. Nicht im hegelschen Sinne der Aufhebung, sondern weil sie dessen Grund untergräbt. Jede archê ist daher an-archisch. Das, was mit Sokrates sozusagen beginnt, untersteht nicht der Ordnung einer archê. Es ist vielmehr eine innere Spannung, die sich vollziehende Teilung der Philosophie. Die beiden Figuren Sokrates-Platon – Platon-Sokrates lassen diese Aufspaltung anschaulich werden. Gerade deshalb wäre es allzu bequem und übereilt, aus Sokrates nur einen Mythos zu machen oder schlimmer noch: eine Fiktion. Man erinnere sich nur der Umkehrung, die in dem von Derrida in seinem Buch Die Postkarte kommentierten Bild aufscheint, auf dem ein kleiner Platon einem schreibenden Sokrates über die Schulter schaut.27 Diese Spaltung bedeutet für die Philosophie die Möglichkeit, zu überleben. Die Frage muss im Inneren der Antwort verbleiben, das Nichtwissen am Grund des Wissens. Die Philosophie steht stets auf der Kippe, wird von Verlust bedroht und von der Negation auf die Probe gestellt, die sie jedes Mal von Neuem zu verinnerlichen hat. Mit Sokrates erscheint sie als ein Gegengift, als pharmakon, als СКАЧАТЬ