Von der politischen Berufung der Philosophie. Donatella Di Cesare
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Название: Von der politischen Berufung der Philosophie

Автор: Donatella Di Cesare

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783957578907

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      Darüber hinaus wird der Schlaf in dem umfassenden transhumanistischen Projekt, das keinerlei unveränderliche natürliche Gegebenheiten mehr anerkennt, das jeden Damm als eine Herausforderung betrachtet und sogar der letzten Grenze, dem Tod, den Krieg erklärt hat, zu einer mit neuen Mitteln zu bekämpfenden Pathologie. Und das auch nur, um über noch mehr Zeit zu verfügen – über dasjenige, was der Lebensform des dritten Jahrtausends am stärksten abzugehen scheint. Der Angriff auf den Schlaf erscheint in dieser Perspektive nahezu legitim.

      Die Schlaflosigkeit ist die chronische Verfassung der Bewohner des außerzeitlichen 24/7-Universums, der Routine des Immergleichen, der hochgradig ausgeleuchteten, künstlichen Umgebung. Es handelt sich jedoch nicht um eine von aufmerksamkeitssattem Wachen bedingte Schlaflosigkeit, die auf Verantwortlichkeit ausgerichtet wäre. Sie entspringt nicht der Weigerung, in der Vergessenheit des Schlafes über die Gewalt hinwegzusehen, die die Welt erschüttert, und sie entsteht nicht – um der meisterhaften Beschreibung von Levinas zu folgen17 – aus der Beunruhigung ob der Schmerzen anderer, aus der Machtlosigkeit gegenüber dem Desaster. Der angemessene Ausdruck für diese neue Schlaflosigkeit ist der Sleep mode, der Modus eines technologischen Dispositivs, das weder Off noch On ist, weder an- noch ausgeschaltet. Dieser Modus entspricht dem Schlaf in einer vertagten oder reduzierten Form, in der die immerwährende Alarmbereitschaft Raum greift, wie es im gedämpften Licht des Bildschirms aufscheint, das jetzt die vormals geschützte Dunkelheit der Nacht durchdringt. Hier herrschen Mangel an Empfindsamkeit, Entzug von Erinnerungen, Reduktion des Wahrnehmungsvermögens, Unmöglichkeit der Reflexion. Es handelt sich um einen Zustand sich endlos hinziehender Trance, um einen massenhaften Somnambulismus. Ist ein Erwachen aus diesem beinahe leblosen Halbschlaf, aus dieser alles durchdringenden Dumpfheit noch möglich?

      Zur polis berufen

      Anstatt klassisch gewordene Definitionen zu wiederholen, ziehe ich es in diesem Buch vor, das Unzeitliche der Philosophie im Lichte der Fragen der Zeit auf die Probe zu stellen. Deswegen schlage ich eine politisch-existenzielle oder besser existenzielle und politische Reflexion auf ihr Schicksal, ihre Rolle sowie ihr Potenzial im Zeitalter des Technokapitalismus und der neoliberalen Governance vor.

      Die Philosophie wurde stets durch zwei verheerende Versuchungen gefährdet, angezogen und umworben: sich in sich zu verschließen und sich vollständig aus der Welt zurückzuziehen oder aber sich ihrer selbst zu entledigen und zu etwas vollkommen anderem zu werden. Da sie dieser Zustand seit ihrem Anbeginn begleitet, wäre es überzogen, sich in dieser Hinsicht zu einem » schlimm wie nie zuvor« hinreißen zu lassen. Und dennoch verbinden sich jene beiden Versuchungen heute in einer zweifachen Abschließung miteinander, die dadurch in ihren Auswirkungen sogar noch intensiviert und potenziert wird.

      Welcher Spielraum bleibt dem Denken noch, wenn es von der Angst vor einem Schritt ins Außen ergriffen wird, wenn allerorten eine diffuse Exophobie vorherrscht? Wo die Wissensformen der durch Technologie gestützten Berechnung und Simulation überantwortet werden, wo sich die Prozeduren der Vereinfachung ausbreiten, die als Wahrheitsverfahren ausgegeben werden, wo jede Erkenntnis ihren festen Ort und ihre performative Aufgabe besitzt, muss die Philosophie schließlich entmachtet werden. Die Geschlossenheit der gesättigten Welt verlangt nach einer Erkenntnisordnung, die diese unterstützt und innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen verbleibt.

      Während jedes Erkenntnisgebiet auf einem Problem basiert, problematisiert die Philosophie die Probleme. Und hinterfragt auch noch den Fragenden, verdrängt ihn von seiner Position, setzt ihn von seiner Kanzel ab, macht aus ihm einen Befragten und Verhörten. Die Philosophie, der Philosoph können sich dieser unentwegten Befragung nicht entziehen, die gewissermaßen eine Aufspaltung bedeutet, welche die Form einer an die Frage gerichteten Frage annimmt.

      Seit jeher atopisch, ist die Philosophie in einer Welt ohne Außen gefährlich fehl am Platz. Als jenseitiges Denken und Berufung zum Über erscheint sie nicht klassifizierbar, nicht eingrenzbar. Sie bildet ein paradoxes Territorium, deterritorialisiert und von der Atopie bewohnt. In ihrer Dezentrierung emigriert sie in ein Außen, von dem aus sie die Ordnung durcheinanderbringt. Denken befremdet, macht einen fremd, zu einem Fremden.

      Indem wir den Bahnen der Existenz und der Politik folgen, beschreiten wir einen Weg, der von drei griechischen Wörtern flankiert wird: Atopie, Uchronie, Anarchie. Während sie in ihrer engen, wechselseitigen Verbindung durchgängig das Alpha privativum bewahren, die innere Spannung der Philosophie, legen sie mit ihrer Synergie den kritischen Impuls frei und lassen ihre in ein Über gerichtete explosive Ladung hindurchscheinen.

      Auf diesem Wege wird ein Thema berührt, auf dem ein Verbot, ein nahezu unanfechtbares Verdikt lastet, sodass sich die Philosophie wieder auf ihre philosophische Berufung verwiesen sieht. Diese Berufung wird fassbar in einer zweifachen Bestimmung, der zufolge die Philosophie nicht nur von der polis angeregt und beeinflusst ist, sondern der polis auch zustrebt – eine politische Berufung also, insofern in der polis ihre eigenste Neigung liegt. Deswegen ist die Philosophie zu einer Rückkehr aufgerufen, ohne dabei je zu vergessen, dass sie – zumal in der Stadt – fehl am Platz ist und gegen-zeitlich wirkt. Nach einer langen Abwesenheit, in der sie ihre Stimme verloren hat, ist sie dazu angehalten und eingeladen, die Gemeinschaft ans Licht zu ziehen, sie wiederzuerwecken. Ohne das Wachen der Philosophie gibt es keine Gemeinschaft.

      Das hatte bereits Heraklit vorgebracht. Und das behauptet auch Platon in seinem großen politischen Dialog Der Staat. Es reicht nicht aus, wie im Traum, onar, zu denken oder in einer traumähnlichen Verfassung; denn das steht in einem fundamentalen Gegensatz zum Denken desjenigen, der aufmerksam wachend ist (vgl. Der Staat, 476c). Das Wachen, hypar, bildet den eigentümlichen Zug der Philosophie, der sie so sehr von allem anderen unterscheidet, dass es gar zu ihrem Symbol avanciert. Man kann sein Leben schlafend oder wachend verbringen. Auch wer nicht philosophiert, lebt zweifellos, aber seine Existenz ist geschmälert und seine Teilhabe an der Politik kompromittiert.

       Staunen: Eine unruhige Leidenschaft

      Das Wort ist griechisch und geht aus einem Kompositum hervor: philein, begehren, erstreben, lieben, und sophia, die – noch vor der Weisheit – das Wissen anzeigt, vor allem das praktische Wissen, die Fertigkeit. Wie z. B. dasjenige des Handwerkers, desjenigen, der Schiffe zu bauen vermag, Musikinstrumente zu spielen weiß, Verse schmieden kann; aber auch dasjenige des Gesetzgebers oder des Politikers. Wenn sich die Demokratie etabliert, sind zahlreiche Kompetenzen vonnöten, um sich in der Stadt zurechtzufinden. Es ist z. B. notwendig, gut reden zu können, um sich zu verteidigen oder aktiv in die Debatten einzugreifen. In diesem Zusammenhang tritt eine neue Figur auf: derjenige, der nicht nur Wissen besitzt, sondern auch dazu bereit ist, es zu verkaufen. Es handelt sich um den sophistês, einen Experten des privaten wie des öffentlichen Lebens sowie einen Meister der Rhetorik, der gegen Geld lehrt und sich – in einem zunehmend negativen Sinne – als Hochstapler und Scharlatan erweist.

      Gegen die Sophisten erheben sich diejenigen in der polis, die – insofern sie ebenfalls als wortgewandt und geschickt angesehen werden – Gefahr laufen, für Sophisten gehalten zu werden. Vor allen anderen Sokrates. Der Unterschied reicht jedoch tief: Denn sie brüsten sich nicht mit Wissen, das sie nicht besitzen. Es ist Begehren, nicht ein Besitz, das die Fragen des Sokrates motiviert. Ein Begehren der Weisheit? Nicht ganz. Es ist nur schwer zu glauben, dass das griechische Wort sophia, wie einige meinen, etymologisch mit saphês verbunden sei, was klar, deutlich, offenkundig bedeutet. Gleichwohl erklärt Sokrates nicht nur, überhaupt nichts zu besitzen, geschweige denn die Wahrheit, sondern er gesteht überdies ein, inbrünstig nach Klarheit zu streben. Dieses Wissen des Nichtwissens bezeichnet den aporetischen Anfang der Philosophie. Liebhaber der sophia – das betont Platon mehrfach – sind diejenigen, die nicht durch Unwissenheit stumpf und unkultiviert dahinleben, sondern vom Begehren СКАЧАТЬ