Antisemitismus. Achim Bühl
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Antisemitismus - Achim Bühl страница 4

СКАЧАТЬ dem der antisemitische Akteur dasjenige, was er „dem Juden“ gerne sagen würde, im Kontext abstrakter Sachverhalte äußert oder gegenüber einer dritten Person artikuliert. Hierzu zählen „Wall-Street-Fantasien“, verkürzte Kapitalismuskritiken, Personifizierungen des Kapitalismus, die dt. Beschneidungsdebatte ebenso wie die sogenannte „Israelkritik“, die in jüngster Zeit einen deutlich wachsenden Stellenwert eingenommen hat. Zu den aktuellen Entwicklungstendenzen des Antisemitismus gehören gleichfalls höchst bedenkliche Tendenzen in den osteuropäischen, postkommunistischen Nationalstaaten, allen voran in Ungarn und Polen, der Antisemitismus von Migranten in Frankreich, die Judenfeindschaft von Muslimen und alles andere als zuletzt der Antisemitismus der sich in Deutschland etabliert habenden AfD, die mit dazu beiträgt, unmittelbar gewaltbereite Rechtsextremisten wie in Halle zu ihren mörderischen Taten zu motivieren.

      1DER ANTISEMITISMUS MITTE DES 19. JH.S BIS 1918

      Ab der Mitte des 19. Jh.s setzte die unheilvolle Verbindung von Antisemitismus, Sozialdarwinismus und modernen Rassenlehren ein. Das zwischen 1853 und 1855 erschienene Werk Essai sur l’inégalité des races humaines des frz. Schriftstellers Arthur Comte de Gobineau (1816–1882) postulierte die Existenz einer »nordischen Urrasse«. Diese »germanische oder arische Rasse« sei der »gelben« sowie der »schwarzen Rasse« überlegen. Gobineau behauptete ebenso die Schädlichkeit der »Rassenmischung«, die zur »Herabzüchtung« der qualitativ »höheren Rassen« führe. Gobineaus Postulat von der Überlegenheit der »arischen Rasse« stieß insbesondere in Deutschland auf fruchtbaren Boden und verband sich hier mit „Rassenlehren“, die Juden als »vorderasiatisches Rassengemisch« diffamierten, deren Ziel es sei, den »Arier« nach Kräften zu übervorteilen und auszubeuten. Spätere Rassenlehren rückten das Konstrukt vom welthistorischen Gegensatz zwischen „Arier“ und „semitischer Rasse“ in den Vordergrund, imaginierten wie der Philosoph Eugen Dühring „den Juden“ als wirtschaftlichen Ausbeuter und diffamierten ihn als »Schmarotzer«, als »Sozialparasit im Völkerleben« sowie als »Gegenrasse«.

      Der Antisemitismus biologisierte sich indes nicht nur ab Mitte des 19. Jh.s, er politisierte sich auch, insofern relevante Kräfte des Wilhelminischen Kaiserreichs die seit der Reichsgründung in Deutschland existente rechtliche Gleichstellung der Juden ablehnten und die Parteipolitik sich verstärkt des Antisemitismus bediente, um Wählerstimmen zu gewinnen. Immer stärker zeigte sich, dass der Weg von der rechtlichen Gleichstellung zur gesellschaftlichen Akzeptanz weit und das Erringen der Bürgerrechte nicht identisch mit dem Schutz vor alltäglicher Ausgrenzung und Diskriminierung war. Außer in der Parteipolitik drang der Antisemitismus auch in Presse, Publizistik und Literatur vor und modernisierte sich, ohne dass seine christlich-antisemitischen Motive verschwanden. Für die betroffenen Juden nahm der Antisemitismus immer stärker alltäglichen Charakter an und reichte von einem Blick in die Tageszeitung, dem Lesen eines angesagten Buchs, dem Ausschluss aus Vereinen, der Beschränkung der beruflichen Karriere bis hin zu Pogromwellen in Russland.

      Während zu Beginn des Jahres 1914 das „Augusterlebnis“ bei den Juden die Hoffnung auf gesellschaftliche Akzeptanz beflügelte, zeigte sich rasch, dass der Erste Weltkrieg in Wahrheit die Rolle eines Katalysators des radikaler werdenden Antisemitismus spielte. Juden wurden als »Spione« der Gegenseite bezichtigt, als »Kriegsgewinnler«, als »Drückeberger« sowie als »Schieber«, deren Interesse darin bestehe, den Krieg auf Kosten des Volkes zu verlängern. Nicht zuletzt trug auch die Gewaltförmigkeit des Krieges dazu bei, dass der Antisemitismus sich brutalisierte.

      Die rechte Agitation machte Juden nicht nur für den Ersten Weltkrieg und seinen Verlauf verantwortlich, sondern ebenso für die „Russische Revolution“, in deren Kontext antisemitische Verschwörungstheorien wie die Protokolle der Weisen von Zion an Gewicht gewannen. „Der Jude“ wurde als Bolschewist imaginiert, dessen Ziel es sei, revolutionäre Unruhen mit der Absicht zu schüren, dem „internationalen Judentum“ zur Macht zu verhelfen und die „jüdische Weltherrschaft“ zu errichten. Ein Jahr darauf wurden die Juden ebenso für die Novemberrevolution in Deutschland verantwortlich gemacht und von der politischen Rechten als „jüdische Novemberverbrecher“ verleumdet. Die durch den Ersten Weltkrieg initiierte Brutalisierung des Antisemitismus belegen der Mord an Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919, welche zuvor als »Judenhure« verunglimpft und misshandelt wurde, die Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD) am 21. Februar 1919, sowie die Ermordung des jüdischen Reichsaußenministers Walther Rathenau in Berlin am 24. Juni 1922.

       1.1Von der Reichsgründung 1871 bis zur konservativen Wende

      In den 1860er-Jahren wurde den Juden in den ersten dt. Staaten die uneingeschränkte Gleichberechtigung gewährt. Das Großherzogtum Baden, welches von 1806 bis 1871 ein souveräner Staat war, erließ am 4. Oktober 1862 ein Gesetz zur bürgerlichen Gleichstellung der Israeliten. Der Erlass verwirklichte erstmals die volle Emanzipation auf allen Ebenen. Den Juden wurden die volle Niederlassungsfreiheit sowie die volle Berufswahl einschließlich des Rechts gewährt, Beamte und Lehrer zu werden. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der im Jahr 1867 erfolgten Umwandlung des Kaisertums Österreich in die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn sahen gleichfalls die rechtliche Gleichstellung der Juden vor. Der unter der Führung Preußens stehende Norddeutsche Bund, der von 1866 bis 1871 alle dt. Staaten nördlich der Mainlinie umfasste, stellte im Jahr 1869 das Judentum weitgehend mit allen anderen Konfessionen gleich. Mit der Reichsgründung des Jahres 1871 erhielt das Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung gesamtdeutsche Gültigkeit. Zwar schloss die Reichsverfassung von 1871 den rechtlichen Prozess der Gleichstellung ab, gleichwohl verschärfte sich der Antisemitismus. Die Antisemiten gedachten nicht nur die Umsetzung des Verfassungsrechts in Verfassungswirklichkeit zu behindern, sondern ebenso die gesellschaftliche Akzeptanz der 512 000 Juden im Deutschen Reich zu obstruieren. Nach der Reichsgründung beschwor der antisemitische Diskurs die Gefahr einer „jüdischen Allmacht“ und lamentierte über die vermeintliche Dominanz der Juden in allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen wie kulturellen Sektoren, obwohl diese nur 1,25 % der Gesamtbevölkerung ausmachten.

      Bedingt durch eine Spekulationsblase, hervorgerufen durch den wirtschaftlichen Optimismus der Gründerzeit, löste der Wiener Börsencrash 1873 eine wahre Kettenreaktion aus. Der 9. Mai 1873 erwies sich als „Schwarzer Freitag“ der Wiener Börse, die gegen Mittag schließen musste. Insolvenzen in großer Zahl ließen sich nicht mehr verhindern, die sich ausweitende Wirtschaftskrise nahm ihren Lauf und stürzte zahllose Menschen ins Elend. Die Losung »Die sociale Frage ist die Judenfrage«, die Gleichsetzung von Wucher, Ausbeutung und Judentum, von moderner kapitalistischer Wirtschaft und „jüdischen Börsenspekulanten“, die sich auf Kosten des schaffenden, arbeitenden Menschen selbstsüchtig bereicherten, machte der Journalist Otto Glagau (1834–1892) im Kontext des Gründerkrachs populär. In der zu seiner Zeit viel gelesenen Illustrierten Die Gartenlaube veröffentlichte Glagau Ende 1874 eine Artikelserie, die zwei Jahre darauf in erweiterter Fassung unter dem Titel Der Börsen- und Gründerschwindel in Berlin in Buchform erschien. Der Berliner Journalist bediente sich der Methode rassistischer Markierung. Immer dann, wenn es sich bei einem der Beteiligten am Börsencrash um einen Juden handelte, wurde dieser als »jüdischer Spekulant« bezeichnet, während bei einem „christlichen Spekulanten“ die Markierung selbstredend unterblieb, sodass systematisch der Eindruck erweckt wurde, die Börse sei eine „jüdische Erfindung“, die „das Judentum“ ausgeheckt habe, um sich die Werte der „schaffenden Bevölkerung“ anzueignen. Glagau führte so die vom dt. Nationalsozialismus propagierte Unterscheidung zwischen dem „schaffenden“ und dem „raffenden Kapital“ ein und kreierte die Figur des „Börsenjuden“, der aus materialistischer Gier nur am eigenen Wohlstand interessiert sei, von Profitsucht getrieben Wirtschaft wie Gesellschaft ruiniere sowie durch Spekulationen zahllose Familien ins Elend stürze. Glagau schwadronierte von den miteinander verschworenen Juden, die einen Börsenkrach billigend in Kauf nehmen, da „der Jude“ am Elend СКАЧАТЬ