Antisemitismus. Achim Bühl
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СКАЧАТЬ des Landes Sachsen-Anhalt, nach Kräften darum, das Attentat von Halle zu externalisieren. Als Ursachen machte er die Gamer-Szene aus sowie das Darknet, mit dem der „gute Bürger“ nicht in Verbindung zu bringen sei. Die Tat kommt auf diese Weise nicht mehr aus der Mitte der Gesellschaft – in der Antisemitismus sowie weitere Varianten des Rassismus beängstigend angestiegen sind, was Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes, noch unmittelbar vor Halle bestätigte –, sondern aus dem „Dunklen Netz“, dem „Ort des Bösen“. Statt sich dem gesellschaftlichen Problem Antisemitismus zu stellen, wird nach Halle eine Nach-Außen-Verlagerung, eine Abwälzung auf das Internet betrieben, so als wenn dieses nicht Teil unserer Gesellschaft wäre. Die Tat kommt indes alles andere als von ungefähr.

      Zu klären ist nicht zuletzt, warum das Anwachsen des Antisemitismus in den letzten Jahren derart unterschätzt wurde. Zu konstatieren ist, dass das Geschwafel vom „vergessen sie den guten, alten Antisemitismus“, da dieser angeblich tot und unbedeutend geworden sei, eine höchstgefährliche, naive Einschätzung war, die davon abgelenkt hat, dass die Polizeistatistik eine eindeutige Sprache spricht und die Täter antisemitischer Taten in Deutschland noch immer überwiegend der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind. Zu debattieren ist darüber, dass die aus der Mitte der dt. Gesellschaft entsprungene deutsche Beschneidungsdebatte (vgl. Kap. 4.4) viel mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Sinne des sekundären Antisemitismus (vgl. Kap. 4) zu tun hatte wie mit dem „guten, alten Antisemitismus“, insofern ein Verbot der Beschneidung ein religiöses Ritual kriminalisiert hätte, welches auf eine lange Tradition als Zielscheibe der Judenfeindschaft zurückblicken kann.

      Der Rechtsextremist, der einen antisemitischen Terroranschlag durchführt, stellt dergestalt betrachtet nur die Spitze des gesellschaftlichen Problems dar und dies reicht von unbelehrbaren Altlinken und ihrem israelbezogenen Antisemitismus, der sogenannten Schlussstrich-Debatte, des sich Verweigerns eines Großteils der dt. Historiker angesichts der Goldhagen-Debatte, der nach wie vor existenten Bereitschaft in großen Teilen der dt. Bevölkerung sich die NS-Zeit „schön zu reden“ und die Zahl der Mörder niedrig zu schätzen, über die mit antisemitischen Untertönen randvoll bestückte Beschneidungsdebatte, den zu geringen Aktivitäten von Islamverbänden angesichts des Antisemitismus von Muslimen, dem Weghören von Lehrkräften bei judenfeindlichen antisemitischen Sprüchen ihrer Schüler (»Ex oder Jude«), dem Wegsehen gar beim Mobbing gegen jüdische Kinder bis hin zur AfD sowie der derzeit hohen Willigkeit, einer Partei seine Stimme zu geben, die tagtäglich Hass schürt und in entscheidendem Maß mit dazu beiträgt, unmittelbar gewaltbereite rechtsextremistische Täter zur Tat anzustacheln.

      Der Täter von Halle war nicht allein, er war kein „einsamer Wolf“, er hat u. a. virtuelle Kontakte gehabt, er hat mit konkreten Personen und nicht mit Sprachrobotern im Internet kommuniziert, die ihn durch ihre Ansichten weiter radikalisiert haben, er hat sich durch das Attentat in Neuseeland inspirieren lassen, dessen Täter zuvor in Österreich den Kontakt zur dortigen identitären Bewegung suchte und vermutlich auch fand. Ein Attentäter nimmt vor seiner Mordtat auf vielfältige Weise Signale der Gesellschaft auf, welche diese ihm vermittelt. In einer Gesellschaft, in der dt. Politiker noch immer weitgehend ungeächtet sagen dürfen „Mutter aller Probleme ist die Migration“, sieht sich ein Attentäter auf dem Weg seiner weiteren Radikalisierung bestätigt. Am Ende eines längeren Prozesses lesen wir schließlich in seinem Bekennerschreiben: »Zum Sterben auserwählt. Töte einen Juden«, »Anudda Shoa. Töte 6 Juden«, »Gleichstellung der Geschlechter. Töte eine Jüdin«, »Warum nicht beides? Töte einen Moslem und einen Juden«, »Das Feuer erhebt sich. Brenne eine Synagoge nieder«, »Krustiger Kebab. Brenne eine Moschee nieder«, »Kulturelle Aneignung. Stich Sie in einen Moslem ab«, »Mitternachts-Völkermord. Töte 3 Nigger zwischen 23 und 1 Uhr«, »Blau-gescreent. Töte einen ZOG-Bot.« Es ist an der Zeit für eine neue Antisemitismusdebatte, die das Maß der Bedrohung für Juden und Jüdinnen zur Kenntnis nimmt, für die Entwicklung effektiver, gesamtgesellschaftlicher Konzeptionen gegen den Antisemitismus wie gegen jegliche Spielart des Rassismus. Es ist Zeit, entschieden Widerstand zu leisten.

      Das erste Kapitel des Buchs widmet sich dem Antisemitismus von der Mitte des 19. Jh.s bis 1918. Es ist die Hochzeit der „modernen Rassenlehren“, die wie der Philosoph Eugen Dühring zumeist „die Juden“ als „Gegenrasse“ zur „germanischen oder arischen Rasse“ konstruierten sowie in der „Rassenvermischung“ einen „Rassezerfall“ der „qualitativ höherwertigeren Rasse“ sahen. Zwar sind „Rassen“ nichts als die Erfindung des Rassisten und konnten sich diverse Rassetheoretiker noch nicht einmal auf die Anzahl der vermeintlichen „Hauptrassen“ verständigen, gleichwohl veränderte die Judenfeindschaft dadurch ihre Gestalt. Der Antisemitismus biologisierte sich indes nicht nur, er politisierte sich auch, insofern sich im Wilhelminischen Kaiserreich diverse Parteien im Kampf um Wählerstimmen des Antisemitismus bedienten. Das Jahr 1903 kann als das Ursprungsjahr moderner Verschwörungstheorien gelten, denen sich in ideologischer Hinsicht auch der Täter von Halle bediente, insofern im Russischen Kaiserreich erstmals eine Version der gefälschten Protokolle der Weisen von Zion erschien, die „das Weltjudentum“ bezichtigte, in geheimen Treffen einen Plan für die Eroberung der Weltherrschaft erarbeitet zu haben, um ein kommendes „jüdisches Weltreich“ zu errichten. In seiner Wirkung bezüglich des Antisemitismus nicht zu unterschätzen ist ebenso der Erste Weltkrieg, der sich als eine Art Katalysator eines sich radikalisierenden Antisemitismus bezeichnen lässt. Die durch den Ersten Weltkrieg in Gang gesetzte Brutalisierung des Antisemitismus verdeutlichen nicht zuletzt die Morde an Rosa Luxemburg, Kurt Eisner und Walther Rathenau.

      Das zweite Kapitel des Buchs behandelt die Zwischenkriegszeit zwischen den beiden Weltkriegen. Die Protokolle der Weisen von Zion erlangten in den 1920-er-Jahren internationale Verbreitung und dienten der politischen Reaktion dazu, „die Juden“ zu bezichtigen, Revolutionen wie die Oktoberrevolution in Russland entfacht zu haben, um die „jüdische Weltbeherrschung“ zu verwirklichen. Die Legende vom Weltherrschaftsstreben der Juden in Gestalt der „Protokolle“ verbreiteten in den USA der Autobauer Henry Ford (1863–1947) und in Deutschland der NSDAP-Ideologe Alfred Ernst Rosenberg (1892–1946), der mit seinen Propagandabroschüren auch das antisemitische Ideologem vom angeblich jüdischen Bolschewismus („Judäo-Bolschewismus“) populär machte. Als Auslöser für einen militanter werdenden Antisemitismus dienten in der Zwischenkriegszeit neben der revolutionären Nachkriegskrise ebenso das Trauma der Kriegsniederlage, der erstarkende Nationalismus sowie die Weltwirtschaftskrise.

      Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Vernichtungsantisemitismus des dt. Nationalsozialismus, dessen Judenfeindschaft von Anfang an auf die Eliminatorik der dt. Juden zielte. Zwar war der Weg nach Auschwitz im Jahr der Machtübernahme der Nazis nicht vorprogrammiert, gleichwohl als potentielle Option immanent. Bereits mit dem Einmarsch der dt. Wehrmacht in Polen begannen die Massenmorde an den polnischen Juden. Im Jahr der Befreiung vom dt. Nationalsozialismus werden sechs Millionen Jüdinnen und Juden die deutsche Terrorherrschaft mit ihrem Leben bezahlt haben. Die Singularität der Shoah resultiert dabei nicht zuletzt aus der Vielzahl der involvierten Länder, der jüdischen Opfer aus nahezu ganz Europa sowie aus dem Sachverhalt, dass zwar Deutsche die Hauptschuld am Holocaust tragen, das Ausmaß des Genozids des deutschen Haupttäters indes nur durch ein Heer von Mittätern möglich war, durch Kollaboration, Schließen der eigenen Grenzen, Verweigerung der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge, Schweigen der Kirchen sowie internationaler Organisationen und durch aktive Beteiligung an Deportationen mittels Verhaftungen und Bereitstellung von Zügen, die in Richtung der deutschen Vernichtungslager fuhren.

      Das vierte Kapitel bespricht die historische Entwicklung des Post-Shoah-Antisemitismus nach 1945 und widmet sich den aktuellen Entwicklungstendenzen der Judenfeindschaft. Der Antisemitismus nach 1945 ist nicht zuletzt im Sinne Sigmund Freuds als Schuldabwehr zu interpretieren, die sich in zahlreichen dt. Debatten in Gestalt der Täter-Opfer-Umkehr, der Solidarisierung mit den Tätern des Völkermords oder gar dem unverhüllten Leugnen der Shoah offenbart. Neuartige Erscheinungen des sogenannten sekundären Antisemitismus mischen sich dabei mit СКАЧАТЬ