Название: Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert)
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9788075834935
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Dann bemerkte sie, von der Vergangenheit wolle sie nicht sprechen und nicht daran erinnern, daß ihre Tochter eine Zeitlang die Anträge des Herrn Tackleton zurückgewiesen und daß sie noch eine große Anzahl anderer Dinge unberührt lassen wolle, was sie aber dennoch in aller Ausführlichkeit tat. Endlich behauptete sie als das Ergebnis ihrer Beobachtung und Erfahrung, daß diejenigen Ehen, in denen es sich am wenigsten um das handle, was man romantischer-und törichterweise Liebe nenne, stets die glücklichsten seien; und daß sie darum bei demjenigen Paar, dessen Hochzeit bevorstehe, die größtmögliche Summe von Glück voraussehe – nicht jenes verzückte Glück, sondern den soliden, gangbaren Artikel. Sie schloß damit, daß sie der Gesellschaft mitteilte, morgen sei der Tag, für den sie ausschließlich gelebt habe, und daß, wenn er vorüber, sie nichts weiter wünsche, als eingepackt und an irgendeinem netten Kirchhofsplätzchen untergebracht zu werden.
Da auf diese Bemerkungen gar nichts zu antworten war – das glückliche Vorrecht aller Bemerkungen, die sich möglichst weit von der Sache halten –, so änderte man den Lauf der Unterhaltung und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Kalbs-und Schinkenpastete, die Hammelkeule, die Kartoffeln und die Torte. Damit die Bierflaschen nicht vernachlässigt wurden, brachte John Peerybingle auf den morgigen Tag, den Hochzeitstag, einen Toast aus und forderte alle auf, ein volles Glas darauf zu leeren, bevor er seine Fahrt fortsetze.
Denn ihr müßt wissen, daß er hier nur haltgemacht hatte, um sein altes Pferd zu füttern. Er hatte noch etwa eine Stunde weit zu fahren, und wenn er abends zurückkam, so holte er Dot ab und machte noch einmal halt, bevor er heimkehrte. Dies war die Tagesordnung bei allen Picknicks, und sie war seit Einrichtung derselben immer getreulich beobachtet worden.
Es waren außer Braut und Bräutigam noch zwei Personen zugegen, die dem Trinkspruch kaum Ehre erwiesen. Die eine war Dot, die zu sehr erregt und beunruhigt war, um an den kleinen Zwischenfällen des Festes teilzunehmen, die andere Bertha, die hastig vor den andern aufstand und den Tisch verließ.
»Auf Wiedersehen!« sagte der robuste John Peerybingle, seinen allem trotzenden Flausrock anziehend. »Zur gewöhnlichen Zeit werde ich wieder hier sein. Laßt es euch allen inzwischen gut gehen!«
»Auf Wiedersehen, John!« antwortete Kaleb.
Er sagte das mechanisch, und auch mit der Hand winkte er nur gleichsam unbewußt; denn er beobachtete Bertha mit einem ängstlich staunenden Gesicht, das seinen Ausdruck kaum änderte.
»Adieu, kleines Bürschchen!« sagte der lustige Fuhrmann, indem er sich herabneigte, um das Kind zu küssen, das Tilly, jetzt ausschließlich mit Messer und Gabel beschäftigt, schlafend – und ausnahmsweise ohne Schaden! – in ein kleines, von Bertha möbliertes Häuschen gelegt hatte. »Adieu! Hoffentlich kommt einmal die Zeit, wo du, mein kleiner Freund, hinausziehst in Wind und Wetter, um deinen alten Vater hinter dem Ofen seine Pfeife rauchen und seinen Rheumatismus pflegen zu lassen, he? Wo ist Dot?«
»Hier bin ich, John!« sagte sie, indem sie erschrak.
»Weiter, weiter!« erwiderte der Fuhrmann, indem er kräftig in die Hände schlug. »Wo ist die Pfeife?«
»Die Pfeife habe ich ganz vergessen, John.«
»Die Pfeife vergessen! Hat man je so etwas erlebt! Sieh! Dot! die Pfeife vergessen!«
»Ich … ich will sie gleich stopfen. Es ist bald geschehen.«
Es war jedoch nicht so bald geschehen. Sie war an ihrem gewöhnlichen Platze – in des Fuhrmanns Flausrocktasche – neben dem kleinen Tabaksbeutel, einem Werk ihrer Hände, aus dem sie die Pfeife zu stopfen pflegte; aber ihre Hand zitterte so sehr, daß sie nicht hineinkommen konnte (und doch war diese Hand wahrhaftig klein genug, um ohne Mühe herauszukommen), und so stümperte sie bei ihrer Arbeit. Das Stopfen und Anzünden, kurz all die kleinen Dienste, die sie meiner Meinung nach, wie ihr euch erinnern werdet, so vorzüglich verstand, wurden miserabel ausgeführt von Anfang bis zu Ende. Während des ganzen Verfahrens sah Tackleton sie mit dem halbgeschlossenen Auge boshaft an, und dies, wenn es den ihren begegnete – oder es auffing; denn man kann schwerlich sagen, daß es je einem andern Auge begegnete, war es doch vielmehr eine Art Falle, worin andere sich fingen – so vermehrte das ihre Verwirrung in durchaus merkwürdiger Weise.
»Na, was für eine ungeschickte Dot du heute nachmittag bist!« sagte John. »Ich glaube wahrhaftig, ich selber hätt’ es besser gemacht!«
Mit diesen gutmütigen Worten schritt er von dannen, und man hörte ihn bald in Gemeinschaft mit Boxer und dem alten Pferd und dem Wagen eine fröhliche Musik die Straße hinunter machen.
Und inzwischen beobachtete Kaleb noch immer seine blinde Tochter mit demselben gedankenvollen Ausdruck in seinem Gesicht. »Bertha«, sagte er sanft. »Was ist geschehen? Wie hast du dich, mein gutes Kind, in ein paar Stunden – seit heute früh – verändert! Den ganzen Tag bist du traurig und still gewesen! Was fehlt dir? Sage es mir!«
»O Vater, Vater!« rief das blinde Mädchen, in Tränen ausbrechend. »O mein hartes, grausames Schicksal!«
Kaleb fuhr sich mit der Hand über die Augen, bevor er antwortete.
»Aber denke doch daran, Bertha, wie fröhlich und glücklich du immer gewesen bist! Wie gut und wie geliebt von so vielen Menschen!«
»Das eben kränkt mich bis in das Herz, lieber Vater! Immer so aufmerksam, immer so freundlich gegen mich!«
Kaleb war viel zu verwirrt, um sie zu verstehen.
»Blind … blind zu sein, Bertha, mein armes, liebes Kind«, stotterte er, »ist gewiß ein großer Schmerz; indes …«
»Ich habe das nie empfunden!« rief das blinde Mädchen. »Ich habe das nie empfunden, wenigstens nicht in seiner ganzen Schwere. Nie! Bisweilen habe ich gewünscht, ich könnte dich sehen, oder ihn – nur ein einziges Mal, Vater, nur einen einzigen kleinen Augenblick – damit ich wüßte, was es sei, was ich hier«, – sie legte die Hand auf die Brust – »was ich hier als mein köstlichstes Gut bewahre, damit ich wüßte, ob ich mich auch nicht geirrt habe! Und manchmal (aber da war ich noch ein Kind) hab’ ich abends bei meinen Gebeten geweint, wenn ich dachte, СКАЧАТЬ