Название: Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert)
Автор: Walter Benjamin
Издательство: Bookwire
Жанр: Книги для детей: прочее
isbn: 9788075834935
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»Aber lieber John, zu Fuß gehen? Bei Nacht!«
Die vermummte Gestalt ihres Mannes machte ein hastiges Zeichen der Bejahung; und als auch der verräterische Fremde und die kleine Wärterin ihre Plätze eingenommen hatten, setzte sich das alte Pferd in Trab, der nichtsahnende Boxer lief voraus, lief wieder zurück, lief immer von neuem um den Wagen und bellte dabei so triumphierend und lustig wie immer.
Als auch Tackleton sich entfernt hatte, um May und ihre Mutter nach Hause zu begleiten, setzte sich der arme Kaleb neben seine Tochter ans Feuer, das Herz zerrissen von Angst und Gewissensbissen, und in einem fort, während er sie traurig ansah flüsterte er vor sich hin:
»Hab’ ich sie denn nur darum von der Wiege an getäuscht, um ihr am Ende das Herz zu brechen!«
Die Spielsachen, die man, um das Kindchen zu amüsieren, in Bewegung gesetzt hatte, waren alle längst stehengeblieben und abgelaufen. In dem Dämmerlicht und der Stille machten die Puppen mit ihrer unerschütterlichen Ruhe, die vorhin so wilden Schaukelpferde mit den weit geöffneten Augen und Nüstern; die alten Herren, die, auf ihren Knien und Schenkeln halb zusammengeklappt, an den Straßentüren standen; die Nußknacker mit ihren Grimassen, ja sogar die Tiere, die paarweise in die Arche spazierten, wie wenn eine Pension spazieren geführt wird – sie alle machten ein Gesicht, als wären sie mit phantastischer Unbeweglichkeit geschlagen worden, als sie das doppelte Wunder einer treulosen Dot und eines geliebten Tackleton, unter welchem Zusammentreffen von Umständen auch immer, sahen.
Drittes Zirpen
Die Schwarzwälder Uhr in der Ecke schlug zehn, als der Fuhrmann sich wieder an seinem Herde niederließ. So verstört und kummervoll, daß er sogar den Kuckuck zu erschrecken schien, der, nachdem er seine zehn melodischen Ankündigungen so kurz wie möglich geschlagen, rasch in den maurischen Palast zurückstürzte und seine kleine Tür hinter sich zuschloß, als könne er es nicht ertragen, dies ungewohnte Schauspiel länger mit anzusehen.
Wäre der kleine Heumäher mit der schärfsten aller Sensen bewaffnet gewesen und hätte er sie bei jedem Schlage dem Fuhrmann ins Herz gestoßen, er hätte es nimmer so grausam zerreißen und verwunden können, wie Dot getan hatte.
Es war ein Herz so voll Liebe zu ihr, so eng und fest vereinigt mit dem ihren durch unzählige Fäden liebevoller Erinnerungen – gesponnen aus ihren Vorzügen, die ebenso zahlreich wie fesselnd, die darauf zielten, es mit jedem Tage fester zu machen –; es war ein Herz, so einfach und so wahr, so stark im Guten, so schwach im Bösen, daß es anfangs weder Zorn noch Rache hegen konnte und nur noch existierte, um darin das zerbrochene Bild seines Abgottes zu bewahren.
Aber allmählich, wie der Fuhrmann nachdenklich an seinem jetzt kalten und finstern Herde saß, begann ein anderer wilderer Gedanke sich seiner Gedanken zu bemächtigen, wie ein böser Sturmwind sich mitten in der Nacht erhebt. Der Fremde befand sich unter seinem entehrten Dache. Drei Schritte führten ihn an seine Tür. Ein einziger Schlag genügte, sie einzustoßen. »Ihr könntet einen Mord begehen, bevor Ihr daran denkt«, hatte Tackleton gesagt. Wie konnte es ein Mord sein, wenn er dem Elenden Gelegenheit gab, mit ihm Brust an Brust zu ringen! War er nicht jünger?
Es war ein schlimmer Gedanke, doppelt schlimm bei der finstern Stimmung seines Gemüts. Es war ein böser Gedanke, der ihn zu einer Rachetat verleiten wollte, die seine fröhliche Behausung in eine jener berüchtigten Höhlen verwandeln würde, vor der einsame Wanderer in der Nacht vorüberzugehen sich fürchten und wo der Furchtsame durch die zerschlagenen Fenster Schatten sehen will, wenn der Mond sich hinter Wolken versteckt und wo man bei stürmischem Wetter wilde Stimmen hören kann.
Er war jünger! Ja, ja, ein Geliebter, der das Herz gewonnen hatte, das nie für »ihn« geschlagen hatte. Irgendein Geliebter aus früherer Zeit, an den sie gedacht und von dem sie geträumt, nach dem sie geschmachtet und geseufzt hatte, während er sich eingebildet hatte, daß sie an seiner Seite glücklich sei! O welche Herzensangst, nur daran zu denken!
Sie war mit dem Kinde hinaufgegangen, um es zu Bett zu bringen. Während er da brütend am Herde saß, kam sie dicht an seine Seite, ohne daß er sie auch nur bemerkte – in den Folterqualen seines großen Elends hatte er den Sinn für alle anderen Töne verloren – und stellte ihren kleinen Stuhl neben seine Füße. Er bemerkte es erst, als er ihre Hand auf der seinen fühlte und ihre Augen nach seinem Gesicht emporblicken sah.
Mit Erstaunen? Nein. Das war sein erster Eindruck, und er mußte sie noch einmal ansehen, um sich zu überzeugen, daß es wirklich so war. Nein, nicht mit Erstaunen. Mit einem neugierig fragenden Blick; aber nicht mit Erstaunen. Anfangs war dieser Blick unruhig und ernst; dann machte er einem seltsamen, wilden, schrecklichen Lächeln Platz, als ob sie seine Gedanken erraten hätte; dann nichts anderes als ihre über der Stirn gekreuzten Hände und ihr geneigtes Haupt und die herabfallenden Haare.
Wenn John in diesem Augenblick selbst über die Allmacht Gottes hätte verfügen können: er hatte in seiner Brust zu viel von ihrer noch göttlicheren Eigenschaft, der Barmherzigkeit, um auch nur auf Dot das Gewicht einer Feder fallen zu lassen. Aber er konnte es nicht ertragen, sie auf dem kleinen Sitz kauern zu sehen, auf dem er sie so oft mit Stolz und Liebe betrachtet hatte, wie sie so unschuldig und so froh dasaß; und als sie aufstand und sich schluchzend von ihm entfernte, da fühlte er sich erleichtert: der leere Platz an seiner Seite war ihm lieber, als ihre sonst so teure Gegenwart. Dies war sein größter Schmerz, denn es erinnerte ihn daran, wie unglücklich er geworden und wie das große Band, das ihm das Leben wert gemacht hatte, zerrissen war.
Je mehr er hieran dachte, desto mehr fühlte er, daß er sie lieber frühzeitig tot, mit ihrem Kinde in den Armen vor sich liegen gesehen hätte, und desto heftiger wurde die Wut gegen seinen Feind. Er sah sich nach einer Waffe um.
Da hing eine Flinte an der Wand. Er nahm sie herab und tat einige Schritte auf die Tür des Zimmers zu, in dem sich der verräterische Fremde befand. Er wußte, daß das Gewehr geladen war. Eine unbestimmte Vorstellung, daß er ein Recht habe, diesen Menschen wie ein wildes Tier niederzuschießen, bemächtigte sich seines Geistes und ergriff ihn ganz und gar wie ein furchtbarer Dämon, der keine mildern Regungen aufkommen ließ und seine unbeschränkte Herrschaft geltend zu machen begann.
Nein, das wollte ich nicht sagen. Diese Vorstellung verbannte nicht alle milderen Gedanken aus seinem Herzen: sie verwandelte sie mit teuflischer Kunst, verwandelte sie in Nadeln, um ihn aufzuhetzen; wandelte Wasser in Blut, Liebe in Haß, Milde in blinde Raserei. Ihr Bild, trauernd, gedemütigt, aber immer noch mit unwiderstehlicher Macht an seine Zärtlichkeit und Barmherzigkeit appellierend, kam ihm nie aus der Seele; aber die Erinnerung schon an dieses Bild genügte, um ihn an die Tür zu treiben, die Waffe an seine Schulter zu heben, seine Finger an den Hahn zu legen und ihm zuzurufen: Töte ihn! In seinem Bette!
Er kehrte das Gewehr um, die Tür mit dem Kolben einzuschlagen; schon schwang er es hoch in der Luft; er fühlte, wie es ihm auf den Lippen lag, dem da drinnen zuzurufen: Fliehe, um Gottes willen, fliehe, durch das Fenster!
Da plötzlich glimmte das erlöschende Feuer auf, erhellte den ganzen Kamin mit einem Lichtschein, und das Heimchen am Herde begann zu zirpen!
Kein Ton, den er hätte hören können, keine menschliche Stimme, nicht einmal die ihre, würde ihn so bewegt, erschüttert und beruhigt haben. Die kunstlosen Worte, mit denen sie ihm von ihrer Liebe zu diesem Heimchen gesprochen hatte, hört er noch ganz frisch in den Ohren; er sah sie wieder vor sich mit ihrem ernsten Wesen, ihrer lieblichen Stimme – o welch eine Stimme es war, so ganz dazu angetan, mit ihrer traulichen Musik einen ehrlichen Mann СКАЧАТЬ