Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
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Название: Gesammelte Werke von Gottfried Keller

Автор: Готфрид Келлер

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

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isbn: 9788027225873

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СКАЧАТЬ Gestalt fast ebenso fremd wie die Schwarzwaldhöhen im dämmernden Norden, denen er sich allmählich näherte und über welchen rötliche Wolkengebilde einen rätselhaften Vorhang vor das deutsche Land zogen.

      Fern hinter dem Wagen sah er seinen jungen Nachbar den Hügel hinankeuchen, noch kaum erkennbar mit seinem schweren Felleisen. Über denselben hinweg gleiteten Heinrichs Augen noch einmal nach dem südlichen Horizonte; er suchte diejenige Stelle am Himmel, welche über seiner Stadt, ja über seinem Hause liegen mochte, und fand sie freilich nicht. Desto deutlicher hingegen sah er nun, als er, sich in den Wagen zurücklehnend, die Augen schloß, die mütterliche Wohnstube mit allen ihren Gegenständen, er sah seine Mutter einsam umhergehen, ihr Abendbrot bereitend, dann aber kummervoll am Tische vor dem Ungenossenen dasitzen. Er sah sie darauf einen Band eines großen Andachtswerkes, fast ihre ganze Bibliothek, nehmen und eine geraume Zeit hineinblicken, ohne zu lesen; endlich ergriff sie die stille Lampe und ging langsam nach dem Alkoven, hinter dessen schneeweißen Vorhängen Heinrichs Wiege gestanden hatte. Hier mußte er den Mantel ein wenig vor sein Gesicht drücken, es war ihm, als ob er schon jahrelang und tausend Stunden weit in der Ferne gelebt hätte, und es befiel ihn eine plötzliche Angst, daß er die Stube nie mehr betreten dürfe.

      Er konnte sich nicht enthalten, jene Familien bitterlich zu beneiden, welche Vater, Mutter und eine hübsche runde Zahl Geschwister nebst übriger Verwandtschaft in sich vereinigen, wo, wenn je eines aus ihrem Schoße scheidet, ein andres dafür zurückkehrt und über jedes außerordentliche Ereignis ein behaglicher Familienrat abgehalten wird, und selbst bei einem Todesfalle verteilt sich der Schmerz in kleinere Lasten auf die zahlreichen Häupter, so daß oft wenige Wochen hinreichen, denselben in ein fast angenehm-wehmütiges Erinnern zu verwandeln. Wie verschieden dagegen war seine eigne Lage! Das ganze Gewicht ruhte auf zwei einzigen Seelen; wurden die auseinandergerissen, so kannte jede die Einsamkeit der anderen, und der Trennungsschmerz wurde so verdoppelt.

      Haben wohl, dachte er, jene Propheten nicht unrecht, welche die jetzige Bedeutung der Familie vernichten wollen? Wie kühl, wie ruhig könnten nun meine Mutter und ich sein, wenn das Einzelleben mehr im Ganzen aufgehen, wenn nach jeder Trennung man sich gesichert in den Schoß der Gesamtheit zurückflüchten könnte, wohl wissend, daß der andere Teil auch darin seine Wurzeln hat, welche nie durchschnitten werden können, und wenn endlich demzufolge die verwandtschaftlichen Leiden beseitigt würden!

      Im Mittelalter wurde der Tod als ein menschliches Skelett abgebildet, und es hat sich daraus eine ganze Knochenromantik entwickelt; sogar leblose Gegenstände, wie Meerschiffe, wurden skelettisiert und mußten auf dem Meere als Totenschiff spuken. Denkt man sich solcherweise das fliegende Gerippe einer Krähe, so war es der Schatten derselben, welchem der Gedanke glich, der soeben über Heinrichs Seele lief. Die warme Sonne schien reichlich durch das dürre Gitter der Knöchlein und Gebeine.

      Nein, rief ihm sein innerstes Gefühl zu, der Zustand, den sich diese Menschen wünschen, gleicht zu sehr der stabilen gedankenlosen Seligkeit, welche das höchste Ziel der meisten Christen ist. Man muß wohl unterscheiden zwischen Leiden und Leiden; das eine ist zu dulden, ja zu ehren, während das andere unzulässig ist!

      Der beste Maßstab, dachte er weiter, ist vielleicht der ästhetische. Alle Leiden lassen sich in schöne und unschöne einteilen, in sittliche und unsittliche, unsittlich für die, welche sie ansehen und in ihrer Nähe dulden. Eine Waise, die auf einem Grabhügel in Tränen zerfließt, ist schön, und ihr Schmerz wird ihr durch das ganze Leben wohltuend sein; aber ein Kind, welches verkommen und hungerig im Staube liegt, ist eine Schande für die ganze Landschaft, und für es selbst erwächst nicht die mindeste ersprießliche Regung aus diesem Zustande; eine greise Mutter, welche ihre Kinder und Enkel dahinsterben sieht, wird geheiligt durch ihr Weh, und ihr Lebensabend ist für sie und andere feierlicher; aber eine alte gebrechliche Frau, welche zitternd um den Tagelohn arbeitet, eine Bürde auf dem gebeugten Rücken, ist ein peinlicher Anblick und gereicht ihrer Gemeinde zum brennenden Vorwurf. Der Jüngling, der mit mächtigen Leidenschaften ringt und seine Grundsätze dem Leben Schritt für Schritt abstreitet, ist, so unglücklich er sich oft fühlt, bei alledem wohl daran, während uns der Bauernknecht in den Augen weh tut, der verachtet und vergessen, unwissend und trotzig vor seiner Stalltüre liegt und nach nichts verlangt als nach seinem Vesperbrot. Jener Jüngling gewinnt in jedem Sturme, und seine Energie erfreut den Zuschauer, dieser unglückliche Faulpelz aber wird durch das langweilige Tröpfeln seiner naßkalten Tage zuletzt ganz verdorben. Kurz, man soll nur dasjenige Unglück dulden, was seinem Träger zur eigentlichen Zierde gereicht, alles andere ist in einer anständigen Gesellschaft auszurotten.

      So spekulierte Heinrich in der Finsternis seines Postwagens; er vergaß indessen eine Hauptsache, nämlich daß seine anständigen und unanständigen Leiden manchmal so durcheinandergemischt und mit Schuld und Unschuld so durchwebt sind, daß ein eigener Linne nötig wäre, sie einzureihen, und gerade für den Ästhetiker könnten bei unvorsichtigem Aufräumen die seltensten Exemplare verlorengehen.

       Inhaltsverzeichnis

      Nicht ohne Herzklopfen vernahm er nun, daß man sich dem Rheine nähere, und bald sah er den schönen Fluß im Mond lichte glänzend daherwallen. Die Post hielt in einem kleinen Grenzorte, und als das Nachtquartier besorgt war, ging Heinrich wieder hinaus; denn die freie Natur, der nächtliche Himmel waren nun seine einzigen Bekannten. Einen jungen Fischer, der singend in seinem Kahne saß, bewog er, ein wenig stromaufwärts zu fahren. Die Nacht war schön; das deutsche Ufer zeichnete sich dunkel mit seinen Wäldern auf den heitern Himmel. Noch eine Ruderlänge, und Heinrich konnte den Fuß auf dies Land setzen, dessen Namen ihn mit dunklen lockenden Erwartungen erfüllte. Das badische Ufer war gerade nicht sehr verschieden vom schweizerischen. Es war finster und still, eine einsame Zollstätte ruhte unter Bäumen, ein mattes Licht brannte darin. Aber schimmernd umfaßte die Rheinflut den steinigen Strand, und ihre Wellen zogen gleichmäßig kräftig dahin, hell glänzend und spiegelnd in der Nähe, in der Ferne in einem mildern Scheine verschwimmend. Und über diese Wellen war fast alles gekommen, was Heinrich in seinen Bergen Herz und Jugend bewegt hatte. Hinter jenen Wäldern wurde seine Sprache rein und so gesprochen, wie er sie aus seinen liebsten Büchern kannte, so glaubte er wenigstens, und er freute sich darauf, sie nun ohne Ziererei auch mitsprechen zu dürfen. Hinter diesen stillen schwarzen Uferhöhen lagen alle die deutschen Gauen mit ihren schönen Namen, wo die vielen Dichter geboren sind, von denen jeder seinen eigenen mächtigen Gesang hat, der sonst keinem gleicht, und die in ihrer Gesamtheit den Reichtum und die Tiefe einer Welt, nicht eines einzelnen Volkes, auszusprechen scheinen. Er liebte sein helvetisches Vaterland; aber über diesen Strom waren dessen heiligste Sagen, in unsterblichen Liedern verherrlicht, erst wieder zurückgewandert; fast an jedem Herde und bei jedem Feste, wo der rüstige Schatten mit Armbrust und Pfeil heraufbeschworen wurde, trug er das Gewand und sprach die Worte, welche ihm der deutsche Sänger gegeben hat. Er schwärmte nur für die deutsche Kunst, von welcher er allerlei Wundersames erzählen hörte, und verachtete alles andere, Frankreich liebte er, wie man ein schönes liebenswürdiges Mädchen mitliebt, dem alle Welt den Hof macht, und wenn etwas Gutes in Paris geschah, so freute er sich höchlich, kam etwas Widerwärtiges vor, so wußte er allerlei galante Entschuldigungen aufzubringen. Erblickte hingegen in Deutschland etwas Gutes das Licht, so machte er nicht viel Wesens daraus, als ob sich das von selbst verstände, und des Schlechten schämte er sich, und es machte ihn zornig. Alles aber, was er sich unter Deutschland dachte, war von einem romantischen Dufte umwoben. In seiner Vorstellung lebte das poetische und ideale Deutschland, wie sich letzteres selbst dafür hielt und träumte. Er hatte nur mit Vorliebe und empfänglichem Gemüte das Bild in sich aufgenommen, welches Deutschland durch seine Schriftsteller von sich verfertigen ließ und über die Grenzen sandte. Das nüchterne praktische Treiben seiner eigenen Landsleute hielt er für Erkaltung und Ausartung des Stammes und hoffte jenseits des Rheines die ursprüngliche Glut und Tiefe des germanischen Lebens noch zu finden. Dabei hatte er alle Richtungen und Färbungen desselben ineinandergeflochten, ohne Kenntnis und Beurteilung СКАЧАТЬ