Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
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Название: Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher

Автор: Стендаль

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788026824862

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СКАЧАТЬ waren, vor zweitausend Jahren oder auch nur vor sechzig Jahren, zur Zeit Voltaires und Ludwigs XV., hatten seinen Blick verschleiert. Zu seiner unsagbaren Freude fiel es ihm jetzt wie Schuppen von den Augen. Nun begriff er endlich, was in Verrières vorging.

      Im Vordergrunde der Ereignisse lag seit zwei Jahren ein Netz von Intrigen, das sich bis zum Regierungspräsidenten von Besançon hinsponn und in Paris vermöge eines Briefwechsels mit einer allmächtigen Persönlichkeit einen Rückhalt hatte. Es handelte sich darum, Herrn von Moirod, den größten Duckmäuser im ganzen Lande, in die Stelle des Vizebürgermeisters zu bringen. Sein Nebenbuhler bei der Wahl war ein steinreicher Fabrikant, der höchstens in die Stelle der zweiten Stütze des Bürgermeisters kommen sollte.

      Jetzt verstand Julian auch die Anspielungen, die an sein Ohr gedrungen waren, wenn die Spitzen der Gesellschaft im Rênalschen Hause zum Diner erschienen. Diese gleichsam Privilegierten trafen weitgehende Wahlvorbereitungen, ohne daß die Allgemeinheit und besonders die Liberalen eine Ahnung davon hatten. Das Wichtigste bei der Sache war, wie stadtbekannt, die bevorstehende Verbreiterung der Hauptstraße von Verrières an der Ostseite um zwei Meter. Die Straße war nämlich Staatsstraße geworden.

      Wenn nun Moirod, der drei Grundstücke besaß, die bei der Enteignung in Frage kamen, Vizebürgermeister wurde und demnächst – falls Herr von Rênal Landtagsabgeordneter wurde – Bürgermeister, so brauchte er nur ein Auge zuzudrücken. Dann waren an den Häusern, die der Straßenverbreiterung im Wege lagen, wohl ein paar unbedeutende Regulierungen vorzunehmen, sie konnten aber schließlich noch hundert Jahre stehenbleiben. Trotz Moirods großer Frömmigkeit und anerkannter Redlichkeit war man sicher, daß er kein Unmensch sein werde. Er war ja Familienvater. Von den übrigen Häusern, die zurückgerückt werden mußten, gehörten neun den ersten Familien in Verrières.

      Diese Kleinwelt samt ihren Machenschaften erschien Julian mit einem Male weit wichtiger als der Bericht von der Schlacht bei Fontenoy, den er kürzlich als etwas ganz Neues in einem der Fouquéschen Bücher gelesen hatte. In den letzten fünf Jahren, seit er angefangen hatte, abends zum Pfarrer zu gehen, war er in einem fort auf Dinge gestoßen, die ihm Kopfzerbrechen verursachten. Aber da Stumpfsinn und Geistesarmut zu den Kardinaltugenden eines Theologie Studierenden gehören, so hatte er keinerlei Fragen stellen dürfen.

      Die Zeit ging im Fluge dahin. Im Banne der Reize seiner Geliebtes kam Julian von seinem finsteren Ehrgeiz ab. Der Zwang, in seinen Gesprächen mit ihr traurige und rein nützliche Dinge zu umgehen (weil die beiden nicht auf dem gleichen sozialen Boden standen), erhöhte, ohne daß er sich dessen bewußt ward, das Glück, das er Frau von Rênal verdankte, und zugleich die Macht, die sie über ihn gewann.

      In den Stunden, da es die Gegenwart der aufgeweckten Kinder erheischte, sich in der Sprache kühler Vernunft zu unterhalten, lauschte Julian aufmerksam ihren Bemerkungen über die Gesellschaft und deren Räderwerk, wobei er sie mit funkelnden Augen ansah. Mitunter geriet Frau von Rênal inmitten ihrer Erzählung von einer durchtriebenen Betrügerei, die bei Gelegenheit eines Wegebaus oder einer Verdingung geschehen war, vermöge ihrer Lebhaftigkeit in die reinste Ekstase. Dann fand es Julian für angebracht, sie auszuschelten, daß sie ihn genauso zärtlich wie ihre drei Jungen behandle. In der Tat hatte sie häufig wirklich das Gefühl, er sei ihr Kind. Mußte sie ihm doch fortwährend seine naiven Fragen über tausend einfache Dinge beantworten, die jeder Fünfzehnjährige aus guter Kinderstube längst weiß. Einen Augenblick später freilich bewunderte sie ihn wieder als ihren Herrn und Meister. Manchmal erschrak sie vor seinem Genie. Von Tag zu Tag glaubte sie in dem jungen Abbé den künftigen großen Mann deutlicher zu erkennen. Sie sah ihn als Papst, als Premierminister, als zweiten Richelieu. Einmal fragte sie Julian: »Ob ich deinen Ruhm und Glanz wohl erlebe? Platz für einen großen Mann ist da. Monarchie wie Kirche haben einen nötig.«

      18. Kapitel

      Am 3. September abends zehn Uhr setzte ein Gendarm, der die Hauptstraße hinaufgaloppierte, die ganze Stadt in Aufruhr. Er brachte die Kunde, daß Seine Majestät der König am nächsten Sonntag nach Verrières käme. Es war bereits Dienstag. Der Regierungspräsident gestattete – das hieß soviel wie: er befahl – die Aufstellung einer Ehrenwache. Der Empfang sollte so feierlich wie nur möglich werden.

      Alsbald ward ein reitender Bote nach Vergy geschickt. Herr von Rênal traf noch während der Nacht in der Stadt ein. Die ganze Bürgerschaft war auf den Beinen. Jedermann hatte sein besonderes Anliegen. Wer nicht unmittelbar beteiligt war, mietete sich einen Balkon, um den Einzug des Königs zu sehen.

      »Wer wird die Ehrenwache führen?« fragte man sich. Der Bürgermeister war sich sofort klar, daß es im Interesse der zu enteignenden Grundstücke war, wenn Herr von Moirod diesen Ehrendienst erhielt. Damit erleichterte man ihm die Anwartschaft auf den Posten des Vizebürgermeisters. An Moirods kirchlicher Gesinnung war nicht das geringste auszusetzen; die war über allen Zweifel erhaben. Aber er hatte noch nie auf einem Gaul gesessen. Er war ein Mann von sechsunddreißig Jahren und in jeglicher Beziehung ein Hasenfuß. Vor dem Herunterfallen fürchtete er sich genauso wie vor jeder sonstigen Lächerlichkeit.

      Frühmorgens um fünf Uhr ließ ihn Herrn von Rênal zu sich bitten.

      »Sie sehen, Herr von Moirod, ich hole Ihren Rat bereits ein, als hätten Sie schon den Posten, den Ihnen jeder Gutgesinnte wünscht. In unsrer Unglücksstadt kommt die Industrie bedenklich hoch. Die Liberalen werden Millionäre; sie trachten nach der Macht und wissen aus jedem Umstand gegen uns Waffen zu schmieden. Behalten wir das Wohl Seiner Majestät, der Monarchie und vor allem unsrer heiligen Kirche unentwegt im Auge… Sagen Sie mal, Verehrtester, wen könnte man am besten mit dem Kommando der Ehrenwache betrauen?«

      Trotz seiner Heidenangst vor jedem Pferd nahm Moirod schließlich den Ehrenposten wie eine Märtyrerkrone an.

      »Ich werde die Sache schon machen«, versicherte er dem Bürgermeister.

      Man hatte gerade noch Zeit, die Uniformen instand zu setzen, die vor sieben Jahren gelegentlich des Durchzugs eines königlichen Prinzen angeschafft worden waren.

      Um sieben Uhr früh kam Frau von Rênal mit den Kindern und dem Hauslehrer aus Vergy an. Sie fand ihren Salon voll von Damen der Liberalen, die von der Versöhnung der Parteien salbaderten und sie dringlichst baten, bei ihrem Gatten ein gutes Wort einzulegen, daß ihre Männer und Söhne zur Ehrenwache befohlen würden. Eine von ihnen behauptete: wenn ihr Mann nicht dazu käme, würde er aus Gram und Kummer Bankrott machen.

      Frau von Rênal jagte die ganze Sippschaft zum Tempel hinaus. Sie hatte sichtlich besondre Gedanken. Julian war erstaunt, ja geradezu verstimmt, daß sie ihm nicht anvertraute, was sie so versonnen machte. Voll Bitternis sagte er sich: »Ich habe es immer gewußt. Vor dem Glück, den König in ihrem Hause zu empfangen, ist all ihre Liebe verflogen! Der Jahrmarktslärm benimmt ihr den Kopf. Sie wird mich erst dann wieder lieben, wenn die Ideen ihrer Kaste ihr Hirn nicht mehr verwirren.«

      Und doch liebte er sie mehr denn je. »Welch Mirakel!« gestand er sich.

      Die Tapezierer begannen sich im ganzen Hause breitzumachen. Lange lauerte Julian vergebens nach einer Gelegenheit, ihr ein paar Worte zu sagen. Endlich traf er sie, als sie gerade aus seinem Zimmer kam, einen seiner Röcke überm Arm. Sie waren allein. Er wollte sie anreden, aber sie entzog sich ihm, ohne ihn anzuhören. »Ich bin ein rechter Narr«, grollte er, »eine solche Frau zu lieben! Der Ehrgeiz macht sie genauso verrückt wie ihren Mann.«

      In der Tat war sie es mehr denn er. Schon lange hegte sie den Herzenswunsch, ihren Julian, und sei es auch nur auf einen Tag, einmal nicht in seinem tristen schwarzen Rock zu sehen. Aus Angst, ihn zu kränken, wollte sie es ihm nur nicht gestehen. Mit wirklicher Verschmitztheit, wie man sie einer so natürlichen Frau gar nicht zutrauen sollte, verstand sie es, zuerst Herrn von Moirod und darauf den Landrat von Maugiron zu überreden, daß Julian mit in die Ehrenwache kam und somit fünf oder sechs reichen Fabrikantensöhnen vorgezogen wurde. Zwei СКАЧАТЬ