Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
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Название: Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher

Автор: Стендаль

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788026824862

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СКАЧАТЬ Augenblick lang sah er mit starkem Abscheu hinauf nach dem kleinen Fenster des Zimmers, das er vor 1815 im zweiten Stock bewohnt hatte. Der Charakter seines Vaters hatte die Erinnerung an seine Kinderzeit allen Zaubers beraubt.

      ›Dort war ich nicht wieder‹, dachte er, ›seit dem 7. März 1815 abends acht Uhr. Ich ging weg, um mir Vasis Paß zu verschaffen, und am anderen Morgen machte ich mich aus Angst vor Spitzeln Hals über Kopf auf die Reise. Als ich nach meiner Rückkehr aus Frankreich hier war, hatte ich dank der Gemeinheit meines Bruders nicht einmal Zeit, hinaufzugehen, um mir meine Kupferstiche wieder anzusehen.‹

      Fabrizzio blickte voll Widerwillen weg. ›Der Abbate Blanio ist älter als dreiundachtzig Jahre‹, sagte er traurig bei sich. ›Er kommt fast gar nicht mehr ins Schloß, wie mir meine Schwester erzählt hat. Die Beschwerden des Alters haben sich bei ihm eingestellt. Dieses so feste und so edle Herz ist vergreist. Gott weiß, wie lange er seinen Kirchturm nicht mehr bestiegen hat! Ich werde mich im Keller verstecken, hinter den Fässern oder hinter der Weinpresse, bis er aufsteht. Ich möchte den Schlaf des guten alten Mannes nicht stören. Wahrscheinlich wird er vergessen haben, wie ich aussehe. Sechs Jahre sind viel bei seinem Alter! Ich werde nur noch den Schatten eines Freundes finden. – Es ist wirklich eine Kinderei,‹ fügte er hinzu, ›hierher zu kommen und sich vom väterlichen Schloß anekeln zu lassen.‹

      Fabrizzio betrat den kleinen Platz vor der Kirche. Zu seinem Erstaunen, das sich zur Freude steigerte, bemerkte er im zweiten Stock des alten Kirchturms, daß die lange, schmale Luke durch die kleine Laterne des Abbaten Blanio erleuchtet war. Der Abbate hatte die Gewohnheit, sie dorthin zu stellen, wenn er in den Holzkäfig hinaufkletterte, der seine Sternwarte war, damit der Lichtschein ihn nicht am Lesen seiner Himmelskarte hindere. Diese Karte war auf einem großen Tonkübel angebracht, in dem ehemals ein Orangenbaum des Schlosses gestanden hatte. Auf dem Boden des Kübels brannte ein winziges Lämpchen, dessen Qualm ein kleines Blechrohr ableitete. Der Schatten des Blechrohres zeigte auf der Karte Norden an. Alle diese schlichten Erinnerungen überfluteten Fabrizzios Seele mit Rührung und erfüllten sie mit Glück.

      Beinahe unwillkürlich pfiff er zwischen seinen beiden Händen den kurzen, leisen Pfiff, das einstmalige Zeichen, daß er Einlaß begehre. Alsbald hörte er, daß mehrmals an der Schnur gezogen wurde, mit der man von der Warte aus den Riegel der Kirchturmtür heben konnte. Er stürzte die Treppe hinan, erregt bis zum Überschwang. Er fand den Abbate auf seinem gewohnten Platz in seinem hölzernen Lehnstuhl; sein Blick hing unverwandt an dem kleinen Fernrohr eines Mauerquadranten. Mit der linken Hand machte ihm der Abbate ein Zeichen, er möge ihn in seiner Beobachtung nicht stören; einen Augenblick darauf vermerkte er etwas auf einer Spielkarte, worauf er sich in seinem Lehnstuhl umwandte und unserem Helden die Arme entgegenstreckte. Fabrizzio fiel ihm weinend um den Hals. Der Abbate Blanio war sein wahrer Vater.

      »Ich habe dich erwartet!« sagte Blanio nach den ersten Worten zärtlicher Herzensergießungen. Spielte der Abbate den allwissenden Astrologen oder hatte ihm, da er häufig an Fabrizzio dachte, wirklich ein Zeichen des Himmels seine von reinem Zufall geleitete Rückkehr verkündet?

      »Nun naht mein Tod!« sagte der Abbate Blanio.

      »Wie?« rief Fabrizzio ergriffen.

      »Gewiß,« fuhr der Abbate in ernstem, aber durchaus nicht traurigem Tone fort, »fünf und einen halben oder sechs und einen halben Monat nach dem Wiedersehen mit dir, wodurch das Maß meines Glückes voll ist, wird mein Leben verlöschen, come face al mancar dell´ alimento (wie ein Lämpchen, dem das Öl ausgeht). Wahrscheinlich werde ich einen oder zwei Monate zubringen, ohne zu sprechen, ehe mein letztes Stündlein schlägt; dann werde ich in die ewige Seligkeit eingehen, wenn Gott findet, daß ich meine Pflicht auf dem Posten erfüllt habe, auf den er mich als Wache gestellt hat.

      Du wirst sehr müde sein, und nach dieser Erregung wirst du bald einschlafen. Seitdem ich dich erwarte, halte ich für dich ein Brot und eine Flasche Branntwein in meinem großen Instrumentenkasten versteckt. Stärke dich damit, damit du mir noch ein paar Augenblicke lang zuhören kannst. Es steht in meiner Macht, dir verschiedene Dinge zu sagen, ehe die Nacht dem Tage völlig weicht. Ich sehe sie jetzt deutlicher, als ich sie vielleicht morgen sehen werde. Denn, mein Kind, wir sind allezeit schwach und müssen diese Schwachheit immer mit berücksichtigen. Morgen ist der alte Mann, der irdische Mensch, vielleicht mit Todesvorbereitungen beschäftigt, und morgen abend um neun Uhr mußt du mich verlassen.«

      Fabrizzio hatte ihm nach alter Gewohnheit schweigend zugehört.

      »Es ist doch wahr,« fuhr der Greis fort, »daß du bei dem Versuch, nach Waterloo zu kommen, zunächst in ein Gefängnis geraten bist?«

      »Ja, mein Vater«, erwiderte Fabrizzio erstaunt.

      »Nun, das war ein seltenes Glück, denn von meiner Stimme gewarnt, kann sich deine Seele auf ein anderes, viel härteres, viel schrecklicheres Gefängnis vorbereiten. Wahrscheinlich wirst du nur durch ein Verbrechen wieder daraus entkommen, aber Gott sei Dank wird dieses Verbrechen nicht von dir begangen werden. Laß dich nie zu einem Verbrechen hinreißen, wie stark auch die Versuchung dazu sein möge! Ich glaube vorauszusehen, daß es sich um die Ermordung eines Unschuldigen handelt, der nichts ahnend sich deine Rechte anmaßt. Überwindest du die mächtige Versuchung, die scheinbar durch die Satzungen der Ehre gerechtfertigt ist, so wird dein Leben in den Augen der Menschen sehr glücklich sein und wahrhaft glücklich in den Augen des Weisen«, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu. »Du wirst sterben wie ich, mein Sohn, in einem hölzernen Lehnstuhl sitzend, fern allem Überfluß und enttäuscht vom Überfluß und, wie ich, ohne schwere Selbstanklagen.

      Jetzt, da die künftigen Dinge zwischen uns abgetan sind, könnte ich nichts von Bedeutung hinzufügen. Vergeblich habe ich zu ergründen gesucht, von wie langer Dauer deine Gefangenschaft sein wird; handelt es sich um ein halbes Jahr, um ein ganzes Jahr, um zehn Jahre? Ich habe nichts entdecken können. Vermutlich habe ich irgendeinen Fehler begangen, und der Himmel wollte mich mit dem Kummer über diese Ungewißheit strafen. Ich habe nur gesehen, daß nach der Gefangenschaft – aber ich weiß nicht, ob das im Augenblick deiner Befreiung ist – etwas geschehen wird, was ich ein Verbrechen nenne. Zum Glück, ich glaube das bestimmt, wird es nicht durch dich begangen. Wenn du so schwach wärest, an diesem Verbrechen teilzunehmen, sind alle meine übrigen Berechnungen nur eine lange Kette von Irrtümern. Dann wirst du keineswegs in Seelenfrieden, nicht in einem hölzernen Lehnstuhl und nicht in weißem Gewand sterben.«

      Bei diesen Worten wollte der Abbate Blanio aufstehen. Jetzt erst bemerkte Fabrizzio an ihm die tiefen Spuren des Alters. Er brauchte fast eine Minute, um sich zu erheben und sich nach Fabrizzio umzuwenden. Der wartete regungslos und schweigsam. Der Abbate umarmte ihn mehrmals und drückte ihn in innigster Zärtlichkeit an sich. Darauf sagte er mit seiner vollen früheren Heiterkeit: »Versuche, es dir inmitten meiner Instrumente ein wenig bequem zum Schlafen zu machen. Nimm meine Pelze! Ein paar darunter sind kostbar; die Duchezza Sanseverina hat sie mir vor vier Jahren geschenkt. Sie bat mich, das Horoskop für dich zu stellen. Ich hütete mich, ihr Mitteilungen zu machen, wenn ich auch ihre Pelze und ihren schönen Quadranten behielt. Jede Voraussage der Zukunft ist ein Eingriff in die Ordnung der Dinge und droht ihren Lauf zu ändern, und dann sinkt die ganze Wissenschaft zusammen wie ein Kartenhaus. Übrigens hätte ich der immer noch so hübschen Duchezza schlimme Dinge sagen müssen. Genug! Laß dich in deinem Schlummer nicht etwa durch die Glocken stören; sie vollführen einen Höllenlärm dicht neben deinen Ohren, wenn zur Frühmesse geläutet wird. Später wird ein Stockwerk tiefer die große Glocke geläutet, daß alle meine Instrumente klappern. Heute ist San Giovita, der Tag des Märtyrers und Soldaten. Du weißt, das kleine Dorf Grianta hat den nämlichen Schutzpatron wie die große Stadt Brescia, was, beiläufig bemerkt, meinen berühmten Lehrer Giacomo Marini aus Ravenna zu einem spaßigen Irrtum verleitet hat. Er hat mir des öfteren prophezeit, meiner harre eine recht reiche Pfründe. Er glaubte, ich würde Pfarrer der prächtigen Kirche San Giovita in Brescia. Ich bin Pfarrer eines kleinen Dorfes von siebenhundertundfünfzig Herdstätten geworden! Es hat auch so sein Gutes gehabt. Ich habe erkannt СКАЧАТЬ