Die bedeutendsten Maler der Neuen Zeit. Norbert Wolf
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СКАЧАТЬ Ende seines Lebens, mit Lichtproblemen der Daguerrotypie. Denn im Studium optischer Gesetzmäßigkeiten sah er die Chance, über persönliche Weltdeutung hinaus zu einer objektiven Welterkenntnis vorzudringen. Licht und Dunkel erhebt Turner zu Äquivalenten eines formlosen Urzustandes, aus dem wie in allmählicher Verdichtung allererst das Bild der Welt erwächst.

      Seine gestalterischen Mittel werden seit etwa 1810 zunehmend weniger in den Dienst der Mimesis, der getreuen Naturnachahmung, gestellt, die Farbe löst sich vom linearen, zeichnerischen Gerüst, wodurch eine gegenstandsauflösende, eine die Malmaterie fast absolut setzende Bildtextur entsteht, die im 20. Jahrhundert gelegentlich mit Strukturen des Informel verglichen wurde. Doch ging es Turner nicht um den experimentellen Abstraktionsprozess an sich, sondern um eine Analogie zum Schaffensvorgang der Natur und um die Veranschaulichung von Werden und Vergehen, kurz: um die Paraphrase der Weltschöpfung. »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben«, erkannte Goethes Dr. Faustus. In diesem Sinne sprach William Hazlitt, der schon 1816 Turners Gestaltungsprinzip »abstrakt« genannt hatte, von einer Darstellung weniger der Naturgegenstände, als vielmehr des Mediums, durch das sie gesehen werden, also der Elemente Luft, Erde und Wasser: »Der Maler geht zurück zu dem anfänglichen Chaos der Welt. Alles ist formlos und entleert.« Jemand, so Hazlitt weiter, habe Turners Landschaften als »Bilder des Nichts, aber sehr ähnlich« eingestuft.10

      Was man dem Œuvre Turners ablesen kann, ist das permanente Erproben der Kunstmittel. Doch diese hochgradig artistische Methode ist sich nie selbst genug, sie bedeutet immer eine »Poetisierung« und zyklische »Mythologisierung« der Landschaft, die an Intensität und visionärer Wirkung schlechthin ohne Vergleich ist. »In dieser Summe der landschaftlichen Möglichkeiten«, so das eindringliche Resümee von Werner Hofmann, »tauchen noch einmal, wie im Abendlicht der Landschaftsmalerei, die alten Götter und die Kultstätten der religiösen und geistigen Bildung des Abendlandes auf, in ihr zeichnen sich aber auch die Umrisse des technischen Zeitalters ab. Turners Landschaft ist elysäisches Gefilde und Pandämonium, apokalyptisches Chaos und gemalter Mythos von der Verschmelzung aller Elemente.«11

      Jenen Enthusiasten der Farbe und des Lichts begeisterte, wie sollte es anders sein, der Zauber Venedigs. Zurück in England, schuf er aus der Erinnerung Aquarelle und Ölgemälde mit venezianischen Motiven, in denen sein Spätstil zu einer richtiggehenden Eruption von Farbe und Licht heranreift, zu einer beispiellosen Handhabung des farbigen Instrumentariums. Dumme Spötter glaubten diese herrliche Polyphonie verunglimpfen zu müssen, indem sie 1841 folgende Pantomime aufführten: Ein Konditorlehrling stolpert und schleudert unabsichtlich Konfekt auf ein Turner-Bild, sodass es völlig besudelt ist. Doch zum Erstaunen des zunächst erzürnten Galeristen lässt sich das Bild als Turnersche »Schmiererei« umso besser verkaufen! Hinter jenem plumpen Spott lauerte Neid und versteckte sich die Ahnung um die avantgardistische Kühnheit einer Kunst, die erst von den Impressionisten und in der Moderne des 20. Jahrhunderts wieder erreicht werden sollte.

      9 Bockemühl, Michael: J. M. W. Turner 1775–1851. Die Welt des Lichtes und der Farbe. Köln 1993; Powell, Cecilia u.a.: William Turner in Deutschland. München 2000; Költzsch, Georg-W.: William Turner. Die Wahrheit der Legende. Köln 2002

      10 Zitiert nach Wagner, Monika: Wirklichkeitserfahrung und Bilderfindung. William Turner, in: Dies. (Hrsg.): Moderne Kunst 1. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst. Reinbek bei Hamburg 21991, S. 115-134, S. 127

      11 Hofmann, Werner: in: Ausstellungskatalog »William Turner und die Landschaft seiner Zeit«. Hamburger Kunsthalle 1976. München 1976, S. 51

      JOHN CONSTABLE

      (* EAST BERGHOLT/SUFFOLK 11. 6. 1776,

      † LONDON 31. 3. 1837)

      Constable ist der neben Turner bedeutendste englische Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts und einer der wichtigsten Repräsentanten dieses Genres generell – so das einhellige Urteil über diesen Gattungs-Spezialisten.12 Doch wie sieht der zugrundeliegende Wertmaßstab aus? Zumal die spätere fortuna critica bediente sich des Topos, Constable sei so etwas wie der Vorläufer der Impressionisten, wegen der atmosphärischen Erfassung der Naturphänomene, sei es in Ölbildern beziehungsweise -studien, sei es in Aquarellen.

      Gewiss, es wäre falsch, die Leistung eines Künstlers nach einem Entwicklungsmodell zu bemessen, demzufolge ältere Kunst dann positiv zu bewerten sei, wenn sie scheinbar strikt auf Avantgarde zusteuere – tue sie dies nicht, sei sie rückständig, jedenfalls eine Art Sackgasse der kunstgeschichtlichen Evolution. Dementsprechend hat sich die kanonische Stilgeschichte, basierend auf dem Ideal des evolutionären Fortschritts, das 19. Jahrhundert im schnittigen Verlauf zurecht gelegt, vom Klassizismus über (Spät-)Romantik und Realismus zu Manet und zum Impressionismus; mit den Neoimpressionisten sowie den »Vätern der Moderne« (van Gogh, Gauguin und Cézanne) beginnt diesem Stemma zufolge die sich vom Sujet lösende Bildautonomie, die zur abstrakten Malerei des 20. Jahrhunderts weiterführe.

      Wer nicht in dieses Konstrukt passt, irritiert: die Deutschrömer beispielsweise, jene unterkühlten Spätromantiker mit klassischer Attitüde, oder die englischen Präraffaeliten, die auf eigenartigen Bahnen von der Romantik aus dem Jugendstil zusteuerten. Die unzähligen »Kleinmeister«, die treuherzigen Landschaftsmaler und Sittenschilderer verbannt man ebenso wie die Salonmaler mit ihren Riesenleinwänden gerne ins Souterrain der Kunstgeschichtsschreibung. Ein paar Repräsentanten aus der Schar derer, die nicht so recht in den Mainstream passen wollen, kommen mit einem blauen Auge davon und dürfen die »Niederungen« verlassen.

      Wo findet da ein Name wie der Constables Platz? Dem modernen Auge erscheinen seine Bilder keineswegs sofort als revolutionär. Zu viel verbindet sie mit der niederländischen Landschaftsmalerei des Barock, auch mit einem Claude Lorrain, den Constable überaus schätzte. Darin traf er sich mit einer ganzen Reihe englischer Landschafter des 18. Jahrhunderts beziehungsweise seiner eigenen Generation, etwa mit einem Richard Wilson oder einem Alexander Cozens.

      Freilich, sie alle – und das ergänzte ihre traditionelle Seite um einen neuen Aspekt –, verwandelten in Ölbildern und nicht zuletzt in Aquarellen die objektiven Gegebenheiten des Naturvorbildes in eine Phänomenwelt des erlebenden Subjekts. Genannt seien nur John Robert Cozens, Thomas Girtin, dann John Crome, Richard Parkes Bonington oder John Sell Cotman. Ihr Ausgangspunkt war die topographische Wirklichkeit, die sie jedoch in eine von Licht und Atmosphäre beherrschte malerische Textur tauchten. Im Unterschied zu den Lichtvisionen Claude Lorrains aus dem 17. Jahrhundert, die für viele von ihnen bewunderte Exempla abgaben, verzichteten sie auf eine metaphysische Interpretation derartiger Phänomene, vielmehr kennzeichneten sie diese als Ergebnis physikalischer Gesetze und als Resultat subjektiven Erlebens. Demgemäß öffneten sich von hier aus gleichermaßen die Wege zu einer eher romantischen wie zu einer eher realistischen Landschaftsmalerei. Constable bevorzugte Letztere.

      Über sein Prinzip der Farbzerlegung berichtet Delacroix in seinem Tagebuch vom 25. September 1846: »Constable sagte, dass die Überlegenheit des Grüns seiner Wiesen daher käme, dass es aus einer Vielzahl verschiedener Grüns zusammengesetzt sei. Die mangelnde Intensität des Grüns bei den normalen Landschaften gründete gerade darin, dass sie es gewöhnlich durch einen einzigen Ton darstellten. Was er hier über das Grün der Wiesen sagte, kann auf alle anderen Farben angewandt werden.« Und der englische Maler selbst äußerte sich folgendermaßen: »In meinen Bildern versuche ich, das Licht, den Tau, den Wind, das Blühen und Wärme oder Kälte darzustellen – nichts von dem ist bisher je von einem Maler gezeigt worden.«13

      Kommen wir zu unserer Eingangsproblematik zurück. Die Geschichte der Kunst verläuft keineswegs auf Einbahnstraßen der Entwicklung, solchen auf ein vorgegebenes Ziel hin. Wohl aber wirft sie immer wieder gleichlautende formale und semantische Fragen auf, an deren »Beantwortung« oft Jahrzehnte, gar Jahrhunderte »arbeiten« – und dies nicht selten parallel СКАЧАТЬ