Die Stunde war da. Gonzague Maris hatte sich entschlossen, nicht mehr länger zu warten. Ein Ruck! Vorbei ist vorbei. Und doch, er schlüpfte nicht so leicht aus diesen seltsamsten Wochen seines Lebens, wie er sich's vorgenommen hatte. Mit Verwunderung erkannte er, daß ihn ein ausgesprochenes Leidensgefühl zurückhielt. War seine Liebe zu Juliette größer, als er wußte? War es ein Schuldbewußtsein, das seine Freiheit trübte? In den letzten Tagen hatte sich die Frau so wirr und unbegreiflich benommen und durch ihre Qual sein Mitleiden und den Wunsch, sie zu beschützen, immer wieder aufgerührt. Und dann, das Ende war so schändlich. Wenn er des gräßlichen Augenblickes gedachte, preßte er die Zähne aufeinander, und sein beherrschtes Gesicht verzerrte sich. Mußte er sich wie ein windiger Lump diesem Ende, diesem abscheulichen Abbruch beugen? Mehr als einmal hatte er sein Versteck verlassen und war bis in die Nähe des Dreizeltplatzes gekommen, um mit Gabriel Bagradian zu sprechen und um Juliette zu kämpfen. Jedesmal aber war er wieder zurückgekehrt, nicht aus Feigheit, sondern aus einem neuartig unüberwindlichen Befangenheitsgefühl: Hier gehöre ich nicht mehr her. Seit jenem Augenblick nämlich hatte sich zwischen Gonzague und der Welt des Damlajik ein unsichtbarer, aber gewaltiger Hinderniswall aufgebaut. Es war für ihn kaum mehr möglich, den Luftraum, der die armenischen Wohnstätten umlagerte, zu durchdringen. Juliette aber lebte jetzt jenseits dieses Walles. Das armenische Schicksal hatte sich stärker erwiesen als sie. Dazu kam die feinverklausulierte Warnung Apotheker Krikors, seines Hausvaters. Dieser hatte mit keinem Wort das Peinliche berührt, sondern nur vom amerikanischen Paß Gonzagues gesprochen und die Meinung kundgetan, daß jeder irdische Aufenthalt einmal zu Ende gehe und daß es das schöne Vorrecht der Jugend sei, leichten Blutes immer wieder Abschied nehmen zu können. Das Leben werde erst trübe, wenn es nur einen einzigen Abschied mehr enthalte. Maris hatte die praktische Philosophie des Alten mit gebührender Achtung entgegengenommen und doch aus einer zartsinnigen Nebenbemerkung herausgespürt, daß jede weitere Stunde auf dem Musa Dagh für ihn mit mancherlei Gefahren verbunden sei. Und dies Bewußtsein der lauernden Gefährdung wurde mit den fortschreitenden Minuten immer stärker. Der abnehmende Halbmond stand schon hoch über seinem Scheitel. Er hatte eine ganze Stunde über die verabredete Zeit gewartet. Juliette war verloren. Er ging noch einmal einige Schritte in die Richtung des Lagers. Dann kehrte er entschlossen um. Vielleicht war es besser so. Langsam und mit zögernder Gründlichkeit zog er seine Handschuhe an. Ein überlegener Beobachter hätte diese elegante Geste inmitten einer weglosen nächtlich asiatischen Bergwüstenei vielleicht als grotesk empfunden. Gonzague zog aber seine Handschuhe nur an, um sich bei der Kletterei nicht zu verletzen. Dann schnallte er sich den schmalen Lederkoffer auf den Rücken. Wie es seine Gewohnheit war, wenn er aus dem Hause ging, zog er seinen Taschenkamm hervor und brachte sein Haar in Ordnung. Das Bewußtsein, nichts vergessen zu haben, kein Stücklein seines Ichs unbemerkt zurückzulassen, kurz ein frisches und wohltuendes All-right-Gefühl erfüllte ihn trotz allem. Langsam schlenderte er zwischen Rhododendron, Myrten und wilden Magnolien in den Mond hinein, als dehne sich vor ihm nicht die Wildnis, sondern eine reizend gebahnte Promenade. Ihm fiel ein Wort ein, das er zu Juliette über sich gesprochen hatte: »Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, weil ich eine sehr schlechte Erinnerung habe.« Und wirklich, bei jedem Schritt nach Süden wurde seine Erinnerung blasser, sein Herz freier. Schon schritt er rascher aus, neugierig der Zukunft zugewandt, die durch seine Pässe und sein Naturell gesichert war. Wie Schneegrate und -felder, von unnatürlich schwarzen Schatten durchhöhlt, strahlten die kreidigen Felsen der Meerseite. Unten bellte die Brandung matt. Als der Pfad schwieriger zu werden begann, kostete Gonzagues Fuß jeden Schritt wiegend vor. Er genoß selbstherrlich das Spiel seiner Muskeln. Wie unverständlich waren die Menschen! All dieser Mord und Schmerz kam daher, daß sie nicht das teilnahmslose Licht in sich herrschen ließen, sondern das dumme unordentliche Dunkel. So einfach, so leicht überwindbar war diese schwarze und weiße Lunawelt. Sich als Nichts im Nichts fühlen, das war alles. Eine kleine schmunzelnde Sympathiewelle für Krikor von Yoghonoluk, den niemand je zitiert hat und je zitieren wird! Gonzague mußte einen nackten Felsen entlangklettern und über zwei Spalten hinwegsetzen. Schon sah er die vorspringende Nase vor sich, jenseits deren der Abstieg begann. Einen Augenblick stand er still, um zu rasten. Die unermeßliche Tiefe öffnete sich unter ihm: Ob ich nach Suedja komme, gleichgültig, ob ich abstürze, gleichgültig! Es ging ihm durch den Kopf: Zuerst fällt man hart, zuletzt fällt man weich. Wie weit war Juliette schon zurückgeblieben! Als Gonzague wiederum in Gehölz und Buschwerk einbog, fielen knapp hintereinander vier Schüsse und peitschten an ihm vorbei. Er warf sich sofort zu Boden und entsicherte seinen Revolver. Sein Herz klopfte rasend. Die Warnung! Es war eben doch nicht gleichgültig, ob er nach Suedja kam oder nicht. Die suchenden Schritte der Rächer strauchelten an ihm vorbei: Gonzague aber sprang auf, packte einen großen Stein und schleuderte ihn im weiten Bogen hinab. Unten entstand ein eilendes Geknacke und Gepolter. Die Verfolger glaubten dem Opfer auf der Spur zu sein und jagten ihm wieder mehrere Kugeln nach, indes Gonzague davonstürmte und wie im Fluge den Punkt erreichte, wo sich der Berg gegen das Dorf Habaste herabsenkt. Laut atmend blieb er stehn. Es ist besser so. Die armenischen Kugeln hatten den letzten Hauch des Schuldgefühls weggefegt. Er lächelte. Seine Augen unter den stumpf gegeneinandergestellten Brauen waren voll Aufmerksamkeit und kühler Werbung vorwärtsgerichtet.
In denselben Minuten schwebte Juliette unruhig zwischen Ohnmacht und Besinnung. Hatte jemand »ja, schlafe, schlaf nur, Juliette« gesagt? Und wessen Stimme? Und nun? Noch einmal, oder jetzt erst?
»Ja, schlafe, schlaf nur, Juliette!«
Sie öffnete die Augen. Das war doch nicht ihr Schlafzimmer. Dreißig Sekunden noch und sie hatte das Zelt erkannt und Gabriel und Iskuhi. Sie konnte die Zunge kaum bewegen. Ihr Gaumen, ihr Rachen waren ohne jedes Gefühl. Die Menschen störten sie in ihrer Einsamkeit. Die Menschen ließen sie nicht in Ruhe. Sie wandte ihren bergschweren Kopf zur Seite:
»Warum laßt ihr denn die Lampe brennen ... Löscht doch aus ... Das Petroleum riecht ... so unangenehm ...«
Juliettens Augen erstarrten. Sie hatten gesucht, was nicht zu finden war. Da wurde ihr auf einmal etwas Fürchterliches ganz bewußt. Sie schien alle ihre Kräfte wieder zu haben und völlig gesund zu sein. Die Decke abwerfend, fuhr sie mit beiden Beinen aus dem Bett und schrie:
»Stephan! ... Wo ist Stephan? ... Stephan soll kommen ...«
Gabriel und Iskuhi zwangen Juliette, die sich verzweifelt wehrte, wieder ins Bett zurück. Gabriel streichelte sie beruhigend und redete ihr zu:
»Du bist krank, Juliette ... Stephan darf nicht zu dir kommen. Es wäre gefährlich für ihn ... Du mußt vernünftig sein!«
Ihr ganzes Leben, Hören und Begreifen lag aber nur in den gellenden Schreien, die sie unaufhörlich ausstieß:
»Stephan ... Stephan ... Wo ...«
Der überbewußte Schreck, der aus der Kranken schrillte, übertrug sich plötzlich auf Gabriel. Er riß den Türvorhang zur Seite und stürzte durch die helle Nacht zum Scheichzelt, wo Stephan sein Nachtlager hatte. Das Zelt war leer. Bagradian zündete ein Licht an. Tot lag das Bett Monsieur Gonzagues da. Sein Inhaber hatte es in der peinlichsten Ordnung zurückgelassen. So glatt und genau sah es aus, als wäre es seit Wochen nicht benützt worden. Nicht so jedoch Stephans Bett, auf dem ein wüstverkommenes Leben herrschte. Die Laken hingen herunter. Auf der Matratze lag der geöffnete Koffer des Jungen, aus dem Kleider, Hemden, Strümpfe in bunter Wirrnis hervorquollen. Die Proviantkiste in der Ecke war aufgebrochen und unachtsam beraubt worden, denn ein paar Sardinenbüchsen blinkten auf der Erde. Der Rucksack Stephans, eine Erwerbung aus der Schweiz, fehlte. Doch auch von Gabriels Sachen war die Thermosflasche, die er erst gestern aufs Tischchen gestellt hatte, unauffindbar verschwunden. Nachdem er den Raum noch einmal genau nach allen Spuren abgesucht hatte, ging er langsam in die Nacht zurück, blieb draußen СКАЧАТЬ