Der Geheimrat schiebt mit einem Ruck die Aktenstöße von sich, als brauche er Luft:
»Es gehört zur tiefen Tragik der deutschen Kriegführung, daß wir, so reinen Gewissens wir auch sind, mit fremder Blutschuld belastet werden ...«
»Alles auf dieser Welt ist zunächst eine moralische und viel später erst eine politische Frage.«
Der Geheimrat nickt Beifall:
»Ausgezeichnet, Herr Pastor, auch ich vertrete immer die Ansicht, daß man bei jeder politischen Entschließung zuerst das Moralische kalkulieren muß.«
Lepsius wittert Erfolg. Jetzt heißt es, zuzupacken:
»Ich sitze hier nicht als einzelner armer Mensch bei Ihnen, Herr Geheimrat. Es ist keine Anmaßung, wenn ich sage, daß ich im Namen der ganzen deutschen Christenheit gekommen bin, der protestantischen, ja auch der katholischen. Ich handle und spreche in Einigkeit mit bedeutenden Männern wie Harnack, Deißmann, Dibelius ...«
Der Geheimrat bestätigt das Gewicht dieser Namen durch einen anerkennenden Blick. Johannes Lepsius aber gerät in seinen alten Schwung, der ihm schon oft gefährlich geworden ist:
»Der deutsche Christ ist nicht mehr gewillt, diesem Verbrechen am Christentum tatenlos zuzusehen. Sein Gewissen erträgt es nicht, durch Lauheit länger mitschuldig zu sein. Die Siegeshoffnung des Reiches steht und fällt mit der Freudigkeit der deutschen Christen. Ich für meine Person schäme mich bis zum Ekel, daß die feindliche Presse spaltenlang über die Deportation berichtet, während das deutsche Volk in den deutschen Zeitungen mit den lügnerischen Kommuniques Envers abgespeist wird und sonst kein Wort erfährt. Verdienen wir es nicht, die Wahrheit über das Schicksal unserer Glaubensgenossen zu hören? Diesem unwürdigen Zustand muß ein Ende gemacht werden.«
Der Geheimrat, über den anklägerischen Ton des Pastors ein wenig erstaunt, legt die Finger aneinander und bemerkt unschuldig:
»Aber die Zensur! Die Zensur könnte das niemals gestatten. Sie ahnen ja gar nicht, wie verwickelt diese Dinge sind, Herr Lepsius.«
»Das primitivste Recht des deutschen Volkes ist es, nicht betrogen zu werden.«
Der Geheimrat lächelt nachsichtig: »Was würde die Folge dieses Pressefeldzuges sein? Eine schwere Belastung der deutschen Nerven und des türkischen Bündnisses.«
»Dieses Bündnis darf uns nicht vor der Geschichte zu Hehlern machen. Wir wünschen daher, daß unsre Regierung schleunig eine Tat setze. Fordern Sie doch in Stambul mit dem allergrößten Nachdruck, daß eine neutrale Kommission, Amerikaner, Schweizer, Holländer, Skandinavier, nach Anatolien und Syrien eingelassen werde, um die Vorgänge zu untersuchen!«
»Sie kennen die jungtürkischen Machthaber zu genau, Herr Pastor Lepsius, um nicht selbst berechnen zu können, welche Antwort wir auf diese Forderung bekämen.«
»Dann muß Deutschland zu den stärksten Mitteln greifen ...«
»Und die wären nach Ihrer Ansicht?«
»Die Drohung, der Türkei alle Hilfe zu entziehen und die deutsche Militärmission, die deutschen Offiziere und Truppen von den Fronten abzuberufen.«
Die Liebenswürdigkeit auf den kühl-gewinnenden Zügen des Geheimrats verwandelt sich in teilnahmsvolle Güte:
»Man hat Sie mir wirklich so geschildert, wie Sie sind, Herr Pastor Lepsius, so ... unschuldig ...«
Er steht schlank auf. Sein grauer Sommeranzug sitzt nicht so unerbittlich straff wie sonst bei seinesgleichen. Diese leichte Nachlässigkeit seiner Art flößt Vertrauen und Sympathie ein. Er wendet sich zu der großen Karte, Europa und Kleinasien, die an der Wand hängt, und bedeckt den Osten ungenau mit seiner blaugeäderten Hand:
»Die Dardanellen, der Kaukasus, Palästina und Mesopotamien, das sind heute deutsche Fronten, Herr Lepsius, mehr noch als türkische. Wenn sie zusammenbrechen, bricht unser ganzes Kriegsgebäude zusammen. Wir können doch wohl den Türken nicht mit unserem eigenen Selbstmord drohen, ohne uns lächerlich zu machen. Ich brauche nicht erst auf die ungeheuere Bedeutung hinzuweisen, die S. M. der Kaiser unsrer orientalischen Macht beimißt. Sollten Sie aber nicht wissen, daß sich die Türken durchaus nicht als unsre Schuldner, sondern recht sehr als unsre Gläubiger fühlen? Noch heute sind die ententefreundlichen Strömungen in der ottomanischen Regierung äußerst stark. Ich kann Ihnen verraten, daß eine mächtige Gruppe des Komitees gern bereit wäre, umzusatteln und lieber noch heute als morgen mit dem Feindbund in Friedensverhandlungen einzutreten. Sie könnten es nachher leicht erleben, wie dasselbe Frankreich und England, die sich jetzt über die Armeniergreuel laut jammernd empören, morgen beide Augen zudrücken würden. Sie sprechen von Wahrheit, Herr Lepsius? Die Wahrheit ist, daß die Türken in diesem Spiel die Trümpfe in der Hand halten, daß wir unendlich vorsichtig zu sein haben und die Grenzen des Möglichen achten müssen.«
Johannes Lepsius hört den Geheimrat ruhig an. Er kennt sie genau, diese Wahrheiten, wie die Kinder der Welt sie mit schneidender Logik vertreten. Sie schließen dicht und fugenlos. Wer nur ein Glied der Kette anerkennt, ist verloren. Der Pastor aber ist längst darüber hinaus, dergleichen anzuerkennen. In den letzten Wochen ist ihm eine geistige Hornhaut gewachsen, die ihn gegen solches Denken unempfindlich macht. Er läßt sich nicht herauslocken. Hartnäckig bleibt er in seinem Kreis:
»Ich bin kein Politiker. Es ist nicht meine Sache, Mittel und Wege zu finden, wie man im letzten Augenblick noch einen Teil des armenischen Volkes retten könnte. Es ist aber meine Pflicht als Vertreter einer großen Anzahl gleichgesinnter deutscher Christen, die dringende Bitte auszusprechen, daß solche Mittel und Wege gefunden werden, und zwar, ehe es zu spät ist.«
»Wie man die Sache auch dreht und wendet, Herr Pastor, man kann vielleicht das Schicksal der Armenier hier und dort mildern, verändern kann man es leider nicht.«
»Mit diesem unchristlichen Standpunkt werden sich weder meine Freunde abfinden noch ich selbst.«
»Begreifen Sie doch, daß in diesem Schicksal höhere Geschichtsmächte zur Geltung kommen, die sich unserem Einfluß entziehen ...«
»Ich begreife nur, daß Enver und Talaat mit satanischer Genialität den besten Augenblick wahrgenommen haben, um die Rolle dieser höheren Geschichtsmächte zu spielen.«
Der Geheimrat lächelt geziert, als sei es nun auch an ihm, einen Zipfel seiner religiösen Anschauungen sehen zu lassen:
»Sagt nicht Nietzsche, was stürzt, soll man noch stoßen?«
Nietzsche aber ist nicht der Mann, ein Kind Gottes, wie es Johannes Lepsius ist, aus der Fassung zu bringen. Etwas unwillig über die Allgemeinheiten, in die das Gespräch zerbröckelt, meint er knapp:
»Wer weiß es denn, ob er der Stürzende oder der Stoßende ist?«
Der Geheimrat, der wieder am Schreibtisch sitzt, wirft noch einmal einen kurzen Blick auf die Wandkarte:
»Die Armenier gehen an ihrer Geographie zugrunde. Das Los der Schwächeren, das Los der verhaßten Minorität!«
»Jede Person und jede Nation kommt einmal in die Lage, die schwächere zu sein. Deshalb darf man einen СКАЧАТЬ