Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter Benjamin страница 130

СКАЧАТЬ Tritte der nackten Füße hinter sich hätte zählen können, bis sie an eine Reihe zerfallener Häuser kamen und der Knabe ihn am Ärmel faßte und stehenblieb.

      »Dort hinein!« sagte das Geschöpf und deutete auf ein Haus, in dem einzelne Fenster erleuchtet waren und eine trübe Laterne mit der Aufschrift »Logis für Reisende« über dem Torweg schimmerte.

      Redlaw blickte um sich, sah auf die halbverfallenen Häuser, auf die wüste Umgebung von Schutthaufen und übelriechenden Gossen, auf den langen Viadukt und auf das Kind, das frierend neben ihm auf einem Beine stand und den andern Fuß daran rieb, um sich zu erwärmen, immer mit demselben gewissen Ausdruck im Gesicht die Umgebung ringsumher anstarrend, daß Redlaw sich abwandte. Er sah das jämmerliche Stück Boden, auf dem die Häuser standen oder vielmehr nicht ganz einstürzen konnten, auf die Reihe von Bogen, die zu dem Viadukt gehörten, die immer kleiner wurden in der Ferne, bis der vorletzte fast noch eine Hundehütte und der letzte ein Steinhaufen war.

      »Hier hinein!« sagte der Junge und deutete wieder auf das Haus. »Ich warte!«

      »Wird man mich hineinlassen?« fragte Redlaw.

      »Sagen Sie, Sie wären ein Doktor«, nickte der Junge. »Es ist genug Krankheit drin.«

      Redlaw ging auf die Haustür zu und sah, als er sich umblickte, daß der Junge unter den letzten kleinen Schmutzbogen kroch, wie eine Ratte. Er fühlte kein Mitleid mit diesem Geschöpf, aber er fürchtete sich vor ihm, und als es aus seiner Höhle nach ihm hinblickte, da eilte er ins Haus, als wolle er fliehen.

      »Kummer, Unglück und Sorgen«, sagte der Chemiker und machte eine schmerzhafte Anstrengung, irgendeine deutlichere Erinnerung in sich wachzurufen, »spuken an diesem Ort. Wer hierher Vergessen bringt, kann kein Leid stiften.«

      Mit diesen Worten stieß er die Türe auf und trat ein.

      Ein Weib saß auf den Stufen und schlief oder träumte und hatte den Kopf auf Hände und Knie gelegt. Da man nicht gut an ihr vorbei konnte, ohne sie zu treten, und da sie von seinem Kommen nicht die geringste Notiz nahm, blieb er stehen und berührte ihre Schulter. Sie blickte auf, und er sah in ein noch ganz jugendliches Gesicht, aus dem jedoch jede Blüte und Frische weggewischt war, als habe der grausame Winter, dem Lauf natürlichen Gesetzes zum Trotz, den Frühling erwürgt.

      Ohne sich sonderlich um ihn zu kümmern, rückte das Weib näher an die Wand, um ihn vorbeizulassen.

      »Was sind Sie?« fragte Redlaw, stehenbleibend, die Hand auf das zerbrochene Treppengeländer gestützt.

      »Raten Sie mal«, antwortete sie und zeigte ihm wieder ihr Gesicht.

      Er sah den verfallenen Gottestempel an, vor so kurzem erst erschaffen, so bald geschändet, und ein Etwas, das nicht Erbar- men war, denn die Quelle, aus der wahres Erbarmen über solches Elend entspringt, war in seiner Brust vertrocknet, ein Etwas, das aber dem Erbarmen näherstand als jedes andere Gefühl, das sich in letzter Zeit in der dunkelnden, aber noch nicht gänzlich finster gewordenen Nacht seines Geistes emporgerungen hatte, gab seinen Worten einen milden Klang.

      »Ich komme her, um zu helfen«, sagte er. »Denken Sie nach über erlittenes Unrecht, über erlittenes Leid?«

      Sie runzelte die Stirn, und dann lachte sie, und ihr Lachen tönte in einen zitternden Seufzer aus, dann ließ sie wieder den Kopf sinken und vergrub die Finger in ihrem Haar.

      »Denken Sie an erlittenes Leid?« fragte er noch einmal.

      »Ich denke über mein Leben nach«, sagte sie und warf einen kurzen Blick auf ihn.

      Er fühlte, daß sie eine von vielen sei und daß er in ihr das Ebenbild von Tausenden von Unglücklichen sehe!

      »Was sind Ihre Eltern?« fragte er.

      »Ich hatte es sonst gut zu Haus, mein Vater war Gärtner, weit draußen in der Provinz.«

      »Ist er tot?«

      »Für mich ist er tot. All das ist tot für mich. Sie sind ein feiner Herr und wissen das nicht einmal.« Sie blickte wieder auf und lachte ihn an.

      »Mädchen!« sagte Redlaw ernst. »Ehe all diese Dinge für dich tot waren, hast du da kein Unrecht erlitten? Hängt sich nicht, sosehr du dich auch dagegen sträuben magst, die Erinnerung an erlittenes Unrecht verzweifelt fest an dich, und wird dir diese Erinnerung nicht immer und immer wieder zur Qual?«

      So wenig Weibliches lag in ihrem Äußern, daß Redlaw ganz bestürzt war, als sie plötzlich in Tränen ausbrach. Aber noch mehr weckte es sein Erstaunen und beunruhigte ihn außerordentlich, als er sah, daß in der kaum erwachten Erinnerung an erlittenes Unrecht die ersten Spuren ehemaligen Menschentums und starrgewordener Zartheit wieder wach wurden.

      Er trat ein wenig zurück und bemerkte, daß sie Schrammen und Wunden trug an Armen, Gesicht und Busen.

      »Welche rohe Hand hat Sie verletzt?«

      »Meine eigene, ich hab's selber getan«, antwortete sie rasch.

      »Das ist nicht möglich!«

      »Ich schwöre es! Er hat mich nicht angerührt. Ich hab's selber getan in der Wut und hab' mich hier niedergeworfen. Er kam mir nicht zu nahe und hat niemals Hand an mich gelegt.«

      Aus dem entschlossenen Ausdruck in den bleichen Zügen bei der offenkundigen Lüge erkannte er, daß noch viel verzerrtes Gute in dieser elenden Brust lebte, und bereute tief, daß er ihr nahegetreten war.

      »Sorgen, Kummer und Leid«, sagte er halblaut vor sich hin und wandte scheu den Blick ab. »Alles, was sie noch verknüpft mit der Stufe, von der sie herabgesunken, trägt diese Wurzel. In Gottes Namen, lassen Sie mich vorbei!«

      Voller Furcht, sie noch einmal anzusehen, voller Furcht, sie zu berühren, voller Furcht vor dem Gedanken, daß er vielleicht den letzten Faden schon zerrissen, der sie noch mit der Barmherzigkeit des Ewigen verbunden, raffte er seinen Mantel zusammen und schlich die Treppe hinauf.

      Gegenüber dem Ausgang der Treppe stand eine Türe halb offen. In diesem Augenblick trat ein Mann mit einem Lichte in der Hand heraus. Als er den Chemiker erblickte, trat er überrascht zurück und nannte ihn unwillkürlich beim Namen.

      Verwundert, hier gekannt zu sein, blieb Redlaw stehen und bemühte sich vergebens, sich auf das abgezehrte und bestürzte Gesicht zu besinnen. Er hatte nicht lange Zeit dazu, denn zu seiner noch größern Überraschung trat der alte Philipp aus dem Zimmer hervor und ergriff seine Hand.

      »Mr. Redlaw«, sagte der Alte. »Das sieht Ihnen ähnlich! Das sieht Ihnen ähnlich, Sir! Sie haben davon gehört und sind uns nachgekommen, um zu helfen, soviel noch zu helfen ist. O zu spät, zu spät!«

      Redlaw, verwirrt und ratlos, folgte ihnen in das Zimmer. Ein Mann lag dort auf einem Feldbett, und neben ihm stand William Swidger.

      »Zu spät!« murmelte der alte Mann und sah den Chemiker traurig an, und die Tränen liefen ihm über die Wangen.

      »Ich sag's auch immer, Vater!« warf sein Sohn mit leiser Stimme ein. »Ich sag's auch immer. Das einzige, was wir tun können, ist, daß wir uns ganz still verhalten, solange er schläft. Du hast recht, Vater!«

      Redlaw blieb neben dem Bette stehen und sah auf die Gestalt herab, die auf der Matratze lag. Es war ein Mann, der in der Vollkraft seines СКАЧАТЬ